Blind
eisern.
Nach dem College bogen sie in eine Straße ein, die von gepflegten Häusern im Viktorianischen und kolonialen Stil gesäumt war. Die Schilder in den Vorgärten verwiesen auf die dort ansässigen Rechtsanwalt- und Zahnarztpraxen. Sie folgten der Prachtstraße, bis sie schließlich die kleineren Häuser erreichten, in denen die Menschen auch wohnten. An einem zitronenfarbenen Cape-Cod-Haus, dessen eine Seite mit einem Spalier voll gelber Rosen bedeckt war, sagte Georgia: »Hier rein.«
Jude und Georgia hörten, wie sich klatschende Flipflops der Tür näherten. Die Frau, die ihnen öffnete, war nicht gerade dick, hatte aber die untersetzte Figur eines Abwehrspielers in einem Football-Team. In ihrem breiten, dunklen Gesicht glänzte ein seidiger Haarflaum auf der Oberlippe, die intelligenten, mädchenhaften Augen waren braun mit einem Hauch Jadegrün. Sie schaute die beiden an, während Georgia sie schüchtern und linkisch anlächelte. Einen Augenblick später wurde etwas in ihren Augen scharf gestellt, wie bei einer Fotolinse, mit der man ein Objekt ins Visier nahm, Georgias Großmutter schrie auf, riss die Arme auseinander und drückte Georgia an sich. Jude dachte verwirrt: Großmutter? Sie könnte jünger sein als ich. Wie alt war sie? Sechzig? Fünfundfünfzig?
»M. B.!«, kreischte Bammy. Dann trat sie einen halbenSchritt zurück, hielt Georgia aber immer noch an den Hüften und schaute ihr ins Gesicht. »Geht's dir nicht gut?«
Sie legte Georgia die Hand auf die Stirn. Georgia wich zurück, und dann sah Bammy die verbundene Hand. Sie nahm Georgias Handgelenk und betrachtete es nachdenklich. Plötzlich ließ sie die Hand los, stieß sie fast von sich.
»Bist du high? Gott, du stinkst wie ein Köter.«
»Nein, Bammy, Ehrenwort, ich hab keine Drogen angerührt. Und nach Hund stinke ich deshalb, weil seit zwei Tagen zwei Hunde auf mir herumklettern. Warum musst du immer gleich an das Schlimmste denken?« Der Prozess, der bei Antritt ihrer Reise vor knapp tausend Meilen eingesetzt hatte, schien abgeschlossen zu sein. Jedes Wort, das aus Georgias Mund kam, klang jetzt nach tiefer Provinz.
Aber hatte ihr Akzent wirklich erst dann begonnen, sich allmählich wieder in den Vordergrund zu spielen, nachdem sie losgefahren waren? Oder hatte dieser schleichende Prozess nicht schon früher begonnen? Jude war, als ob der Redneck-Zungenschlag schon bis zu dem Tag zurückreichte, als sie sich mit der im Anzug des toten Mannes verborgenen nicht existenten Nadel gestochen hatte. Die verbale Verwandlung brachte ihn aus der Fassung. Wenn sie redete wie gerade mit ihrer Großmutter, dann hörte sie sich an wie Anna.
Bon quetschte sich zwischen Jude und Georgia und schaute erwartungsvoll zu Bammy hoch. Das lange rosa Band der Zunge hing ihr aus dem Maul, Speicheltropfen platschten auf den Boden. Angus beschnüffelte die Blumen am Lattenzaun und folgte auf dem grünen Rasenrechteck allen möglichen Fährten.
Bammy schaute zuerst auf Judes Doc-Martens-Stiefel, dann hoch zu seinem zerzausten schwarzen Bart,sah die Schrammen, den Dreck, den Verband an der linken Hand.
»Sie sind der Rockstar?«
»Ja, Ma'am.«
»Ihr seht aus, als hättet ihr euch geprügelt. Untereinander?«
»Nein, Bammy«, sagte Georgia.
»Niedlich, die beiden Verbände an euren Händen passen farblich zueinander. Ist das irgendwas Romantisches? Habt ihr euch Brandzeichen verpasst, zum Zeichen eurer Zuneigung? Zu meinen Zeiten haben wir Freundschaftsringe getauscht.«
»Nein, Bammy. Es ist alles in Ordnung. Wir sind unterwegs nach Florida, und ich hab mir gedacht, schauen wir kurz rein, dann kannst du Jude kennenlernen.«
»Ihr hättet anrufen sollen, dann hätte ich euch ein schönes Abendessen machen können.«
»Wir können nicht bleiben, wir müssen es bis heute Abend nach Florida schaffen.«
»Ihr schafft es nirgendwo mehr hin. Ins Bett vielleicht oder ins Krankenhaus.«
»Es geht mir gut, Bammy.«
»Red keinen Unsinn. Wenn ich mir dich anschaue, dann ist gut so ziemlich das letzte Wort, das mir einfällt.« Sie zupfte eine schwarze Haarsträhne von Georgias feuchter Wange. »Du bist schweißnass. Ich sehe, wenn jemand krank ist.«
»Mir ist bloß heiß, das ist alles. Ich hab acht Stunden in der Kiste da gesessen, mit zwei ekligen Hunden und 'ner Klimaanlage, die nicht richtig funktioniert. Was ist, schiebst du jetzt deinen breiten Hintern aus dem Weg, oder soll ich in den Wagen steigen und weiterfahren?«
»Hab mich noch nicht
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