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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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konnte es kaum erwarten, endlich aufzustehen und das Ganze hinter sich zu haben.
    »Jude«, sagte Georgia, korrigierte sich aber sofort. »Justin. Nicht aufhören. Versuch es noch mal.«
    Jude. Justin.
    Er schaute auf seine Finger, auf die Planchette und das Brett darunter, überlegte, was nicht stimmte, und plötzlich wusste er es. Georgia hatte gesagt, dass in wahren Namen Energie stecke, dass die exakten Worte die Macht hätten, die Toten zu den Lebenden zurückzuholen. Und dann dachte er, dass sein wahrer Name nicht Justin war, dass er Justin Cowzynski mit neunzehn Jahren in Louisiana zurückgelassen hatte und dass der Mann, der vierzig Stunden später in New York aus dem Bus gestiegen war, jemand vollkommen anderer gewesen war, jemand, der Dinge tun und sagen konnte, deren Justin Cowzynski nie fähig gewesen wäre. Außerdem stimmte nicht, dass sie nach Anna McDermott riefen. Er hatte sie nie so genannt. Als sie zusammen gewesen waren, hatte sie nicht Anna McDermott geheißen.
    »Florida«, sagte Jude, fast hauchte er es. Als er weitersprach, war er selbst überrascht, wie gelassen, wie selbstsicher seine Stimme klang. »Komm schon, Florida, red mit mir. Ich bin's, Liebling, Jude. Es tut mir leid, dass ich mich nie gemeldet habe. Aber jetzt rufe ich dich. Bist du da? Hörst du mich? Wartest du immernoch auf mich? Ich bin jetzt hier. In diesem Augenblick.«
    Die Planchette machte unter ihren Fingern einen Satz. Als ob jemand von unten gegen das Brett geschlagen hätte. Auch Georgia machte einen Satz und stieß einen matten Schrei aus. Zitternd bewegte sie ihre verletzte Hand zum Hals. Der Wind wechselte die Richtung und saugte die Rollos an, die gegen die Fenster klatschten und den Raum verdunkelten. Angus hob den Kopf. Im schwachen Licht der Kerzen funkelten seine Augen in einem unnatürlichen Grün.
    Georgias gesunde Hand hatte den Zeiger nicht verlassen, der sich in der Sekunde, als er aufhörte zu ruckeln, über das Brett zu bewegen begann. Die widernatürliche Sinneswahrnehmung ließ Judes Herz rasen. Es fühlte sich an, als befänden sich noch andere Finger auf der Planchette, eine dritte Hand, die zwischen seine und Georgias geschlüpft war, die den Zeiger über das Brett schob und immer wieder urplötzlich in eine andere Richtung dirigierte. Der Zeiger glitt über das Brett, berührte einen Buchstaben, verharrte einen Augenblick, wirbelte dann unter ihren Fingern herum, sodass Jude sich das Handgelenk verrenken musste, damit er die Hand auf dem Zeiger behalten konnte.
    »W«, sagte Georgia. Ihre Kurzatmigkeit war nicht zu überhören. »A. R. U. M.«
    »Warum«, sagte Jude. Der Zeiger ging weiter auf Buchstabenfang, und Georgia sagte sie an: E, dann R. Jude hörte konzentriert zu, während Georgia weiter Buchstaben ansagte.
    Jude: »Erst. Jetzt.«
    Die Planchette machte eine halbe Drehung – und blieb leise quietschend stehen.
    »Warum erst jetzt«, wiederholte Jude.
    »Was, wenn sie es gar nicht ist? Wenn er es ist? Woher wissen wir, mit wem wir reden?«
    Georgia hatte den Satz kaum beendet, da setzte sich die Planchette ruckartig wieder in Bewegung. Es war, als lägen die Finger auf einer Schallplatte, die sich plötzlich zu drehen begann.
    Georgia: »W. A. R …«
    Jude: »Warum. Ist. Der. Himmel. Blau.« Der Zeiger blieb stehen. »Sie ist es. Sie hatte immer gesagt, dass sie lieber Fragen stellt, als sie zu beantworten. Das war so ein Running Gag zwischen uns beiden.«
    Sie war es. Bilderjagten ihm durch den Kopf, eine Serie gestochen scharfer Einzelbilder. Sie hinten im Mustang, auf den weißen Ledersitzen, bis auf die Cowboystiefel und den Zehn-Gallonen-Hut mit der Feder nackt, mit schelmisch leuchtenden Augen, die unter der Krempe hervorlugten. Dann hinter der Bühne bei dem Trent-Reznor-Konzert. Sie zieht an seinem Bart, er beißt sich innen auf die Backe, um nicht laut aufzuschreien. Dann tot in der Badewanne, ein Bild, das er außer in seiner Fantasie nie gesehen hatte, das Wasser schwarze Tinte, ihr Stiefvater in seinem schwarzen Totengräberanzug neben der Wanne kniend, wie im Gebet versunken.
    »Weiter, Jude«, sagte Georgia. »Red mit ihr.«
    Ihre Stimme klang angespannt, war kaum mehr als ein Flüstern. Jude schaute zu ihr hoch. Sie zitterte, das Gesicht glühte schweißnass. Die Augen in ihren dunklen, knochigen Höhlen funkelten tief von innen heraus … Fieberaugen.
    »Alles in Ordnung?«
    Georgia schüttelte den Kopf: Lass mich in Ruhe! Ihr ganzer Körper bebte. Aber ihre linke Hand

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