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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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viel rufen, wie Sie wollen, es ändert nichts am Lauf der Dinge.«
    »Das glaube ich nicht. Meine Schwester ist tot. Niemand hat drauf geachtet, als sie aufgehört hat zu singen, und dann hat sie jemand entführt und getötet. Aber ihr seid nicht tot. Ihr beide lebt, und ihr seid hier in meinem Haus. Ihr dürft euch nicht aufgeben. Die Toten gewinnen, wenn ihr aufhört zu singen und es zulasst, dass sie euch mitnehmen.«
    Etwas an Bammys letzten Worten versetzte ihm einennervösen Schock, so als hätte er sich an etwas Metallischem einen elektrischen Schlag eingefangen. Es hatte mit Selbstaufgabe und Singen zu tun. Der Gedanke war da, ergab aber noch keinen Sinn. Die Tatsache, dass er und Georgia ihre Möglichkeiten so ziemlich ausgereizt hatten, das Gefühl, dass sie beide so tot waren wie das Mädchen, das er gerade hinter dem Haus gesehen hatte, waren Hindernisse, die kein anderer Gedanke überwinden konnte.
    Georgia küsste Bammys Gesicht, küsste deren Tränen, einmal, noch einmal. Und schließlich wandte Bammy den Kopf, schaute Georgia an und nahm das Gesicht ihres Enkelkindes in beide Hände.
    »Bleibt hier«, sagte Bammy. »Sag's ihm, überrede ihn. Und wenn er nicht will, dann lass ihn eben allein weiterfahren.«
    »Das kann ich nicht«, sagte Georgia. »Er hat recht. Wir dürfen dich nicht noch weiter in die Sache reinziehen, als wir das sowieso schon getan haben. Ein Mann, ein Freund von uns beiden, ist jetzt tot, weil er sich nicht schnell genug von uns absetzen konnte.«
    Bammy drückte ihre Stirn gegen Georgias Brust. Ihr Atem ging ruckartig, stockend. Ihre Hände bewegten sich von Georgias Wangen hinauf in ihr Haar. So standen die beiden Frauen schwankend da. Es sah aus, als tanzten sie sehr langsam.
    Bammy fing sich schnell wieder, hob den Blick und schaute Georgia ins Gesicht. Ihre Wangen waren rot und feucht, ihr Kinn zitterte, aber sie hatte aufgehört zu weinen.
    »Ich werde für dich beten, Marybeth.«
    »Danke«, sagte Georgia.
    »Ich verlass mich drauf, dass du zurückkommst. Ich verlass mich drauf, dass ich dich wiedersehe, wenn ihr eure Angelegenheiten geregelt habt. Ich bin mir sicher, du schafft das. Du bist ein cleveres, anständiges Mädchen,und du bist mein Mädchen.« Bammy atmete scharf ein und schaute Jude mit ihren tränentrüben Augen von der Seite an. »Ich hoffe, er ist es wert.«
    Georgia lachte, ein leises, krampfartiges Geräusch, fast wie ein Schluchzen. Sie drückte Bammy noch einmal.
    »Dann geht«, sagte Bammy. »Wenn ihr nicht anders könnt, geht.«
    »Wir sind schon weg«, sagte Georgia.
    34
    Er fuhr. Das Lenkrad fühlte sich heiß und glitschig an. Sein Magen revoltierte. Er wollte seine Faust in etwas hineinrammen. Er wollte zu schnell fahren und tat das auch, schoss über Kreuzungen, wenn die Ampel schon von Gelb auf Rot sprang. Und wenn er zu spät kam und halten musste, dann trat er im Leerlauf aufs Gaspedal und ließ ungeduldig den Motor aufheulen. Die Hilflosigkeit, die er verspürt hatte, als man das kleine Mädchen aus Bammys Garten verschleppt hatte, hatte sich verdickt, war zu Zorn geronnen und hatte einen Geschmack nach saurer Milch in seinem Mund hinterlassen.
    Georgia schaute sich das ein paar Meilen lang an und legte dann eine Hand auf seinen Unterarm. Die klamme Kühle ihrer Haut ließ ihn zusammenfahren. Er wollte tief durchatmen und seine Fassung zurückgewinnen ihretwegen, nicht für sich selbst. Wenn einer von ihnen beiden ein Recht auf Zorn hatte, dann sie, nach all dem, was Anna ihr im Spiegel gezeigt hatte, nachdem sie sich selbst als Tote hatte sehen müssen. Er verstand nicht, dass sie so ruhig und ausgeglichen, dass sie so besorgt um ihn war. Und er sah sich außerstande, tief durchzuatmen. Als vor ihm ein Laster nicht schnell genug anfuhr, nachdem die Ampel auf Grün gesprungen war, fing er an zu hupen.
    »Schlaf nicht ein, du Wichser!«, brüllte Jude durchs offene Fenster, als er über die doppelte gelbe Linie ausscherte und an ihm vorbeizog.
    Georgia nahm die Hand von seinem Arm, legte sie inden Schoß und schaute auf ihrer Seite zum Fenster hinaus. Sie fuhren eine Straße weiter und mussten an der nächsten Kreuzung wieder halten.
    Was sie dann sagte, hörte sich an wie amüsiertes Gebrummel. Sie hatte die Worte gar nicht an Jude gerichtet, hatte mehr zu sich selbst gesprochen und war sich vielleicht nicht einmal bewusst, dass sie sie überhaupt laut ausgesprochen hatte.
    »Schau an, mein allerliebster Gebrauchtwagenhändler von der ganzen

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