Blinde Angst
dann hatte es möglicherweise mit der Fracht des Schiffes zu tun. Vielleicht ließen sich irgendwelche Dokumente finden, die belegten, dass hier groß angelegter Schmuggel betrieben wurde, oder sonst irgendwelche Papiere, die den ungewöhnlichen Besuch des Beamten auf dem Schiff erklärten.
Im Hafen herrschte eine ganz eigene Art der Stille in der Nacht; da war das Plätschern des Bilgenwassers, das metallische Klimpern von Werkzeug, das Summen von Gabel-Staplern und das Knistern von Schweißbrennern. Man kam sich winzig vor unter all den Schiffen, die so hoch aus dem Wasser aufragten.
An Bord zu kommen, war nicht schwer gewesen, es gab genug dunkle Winkel, und die Yelenushka war in einem abgelegenen Teil des Hafens festgemacht. Falls von der Besatzung jemand wider Erwarten früher auf das Schiff zurückgekehrt war, so würden die Betreffenden entweder schlafen, oder sie würde ihre Schritte früh genug hören, um sich in Sicherheit bringen zu können.
In dunklen Kleidern eilte sie die Gangway hinauf und schlich im Licht der Halogenscheinwerfer zwischen den verpackten Paletten entlang. Als sie zu den Stahltüren kam, die ins Innere führten, schlüpfte sie aus den Schuhen und legte sie neben ein Paket mit medizinischen Gütern, das mit dem Symbol des Roten Kreuzes und dem Stempel »Port-au-Prince« versehen war.
Sie war gerade an einer offenen Tür vorbeigekommen, durch die man über eine Stahltreppe unter Deck gelangte, als sie plötzlich einen gedämpften Schrei hörte. Das Geräusch konnte von allem Möglichen stammen – von einem Meeresvogel oder einem rostigen Scharnier, oder von einem Container, der in seinen Verschlüssen ächzte. Doch als es noch einmal ertönte, wusste sie, dass es der Schrei eines Menschen war, der von irgendwo unter Deck kam. Es würde nur ein paar Minuten in Anspruch nehmen, es herauszufinden.
Aleksandra kehrte zu der offenen Tür zurück, zog ihre Glock-19-Pistole aus dem Hosenbund und schlich barfuß die Metalltreppe hinunter. Sie gelangte in einen Stahlkorridor, der von schwachen Lichtern beleuchtet war, und kam an mehreren Türen vorbei. Der Boden vibrierte unter ihren nackten Füßen – die Schiffsgeneratoren brummten gleichmäßig.
Aus einer offenen Tür weiter vorne drang etwas Licht auf den Gang heraus. Sie hörte das unmissverständliche Quietschen einer Federkernmatratze und entspannte sich mit einem Lächeln auf den Lippen. Das hier waren die Quartiere der Mannschaft. Irgendein junger Mann musste ein Mädchen an Bord geschmuggelt haben, um sich noch ein letztes Mal zu vergnügen.
Sie kehrte um und huschte auf leisen Sohlen zur Treppe zurück, als plötzlich eine Metalltür über ihr zugeschlagen wurde und schwere Schritte auf der Treppe zu hören waren. Es gab keinen anderen Weg für sie als zurück zu den Mannschaftsquartieren. Sie steckte die Waffe hinten in den Hosenbund und beschloss, mit einer kleinen Notlüge das Schiff zu verlassen. Es war nicht notwendig, dass irgendjemand von ihren Ermittlungen erfuhr und der Leiter der Zollbehörde mitbekam, dass sie von seinen Besuchen auf dem Schiff wusste.
Sie zerzauste sich das Haar, zog sich das Hemd aus der Hose und öffnete einen Knopf am Hals. Wenn jemand sie fragte, würde sie sagen, dass sie aus der Kabine von einem der Männer kam.
Die Stiefel über ihr dröhnten auf der Metalltreppe; der Mann würde jeden Moment auftauchen. Noch fünf Schritte, drei, zwei ... dann sah sie Füße, nackte Füße, keine Stiefel, kleine Füße, nicht die eines Mannes.
Die Füße gehörten einem blassen jungen Mädchen, das mit Trenchcoat und Jeans bekleidet war. In der Hand trug sie einen alten Koffer, und hinter ihr ging ein Mann, der ihr eine Pistole an den Kopf setzte.
»Na, so etwas, was haben wir denn da?«
Der Mann war groß, hatte einen Schnurrbart und trug eine Strickmütze und eine schwarze Lederjacke. Aleksandra drehte sich um, um wegzulaufen, doch da war plötzlich ein Mann hinter ihr, ein dicker Kerl in Unterhosen, der eine Schrotflinte mit abgesägtem Lauf in den Händen hielt.
Ein allgemein gültiger Leitsatz unter Polizisten lautete: »Eine Pistole greif an, vor einem Messer lauf weg.« Aber der Mann auf der Treppe benutzte das Mädchen als Schild. Er würde mehrere Schüsse abgeben können, bis Aleksandra an der Geisel vorbei war. Der Mann mit der Schrotflinte würde, durch die Schüsse alarmiert, herbeieilen, was wiederum seinen Kollegen an der Treppe vielleicht einen Moment lang ablenkte. Sein kurzes Zögern
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