Blinde Angst
und ihrem wundervollen schwarzen Haar, das sie mit einer Schildpattspange gebändigt hatte.
»Das tut mir sooo leid«, sagte sie und stützte sich auf einen Laternenpfahl, während sie den abgebrochenen Absatz ihrer goldenen Sandale begutachtete. »Ich muss mir angewöhnen, richtige Schuhe im Auto zu haben.« Sie lächelte. »Marie.« Sie streckte Jill die rechte Hand entgegen.
»Jill«, antwortete das Mädchen und schüttelte ihr die Hand.
Marie sah auf ihren Hals. »Ich habe genau das gleiche Herz – Tiffany, nicht wahr? An Ihnen sieht es aber viel besser aus. Es passt so gut zu Ihrem blonden Haar.«
»Sie haben so schöne Haare.« Jill bückte sich, um einen Sarong aufzuheben, der auf den Boden gefallen war.
»Wie Stroh«, erwiderte die Frau selbstironisch und griff sich in den Schopf.
Sie warf ihre Sandalen in eine Mülltonne, in der es von Fliegen wimmelte.
»Wow«, sagte Jill und starrte auf die Gucci-Schildchen.
»Wer soll sie denn reparieren?«, meinte Marie achselzuckend. »Außerdem strahlen sie eine negative Energie aus. Ich habe sie getragen, weil sie meinem Ex gefallen haben. Suchen Sie einen Sarong?«
Jill nickte und hängte den Kleiderbügel mit dem Sarong zurück, um den Ständer weiter durchzusehen.
»Wofür soll er sein?«
»Eine Pool-Party«, antwortete Jill. »Ich bin mit einem Kreuzfahrtschiff gekommen.« Sie zeigte mit dem Daumen zum Hafen hinunter.
»Ich entwerfe so was.«
»Was?«, fragte Jill.
Die Frau breitete die Arme aus. »Sarongs«, sagte sie. »Eigentlich entwerfe ich so ziemlich alles, was Sie hier sehen. Ich bin Designerin und produziere meine Kleider hier in Santo Domingo.«
»Im Ernst?« Jill lächelte.
Marie zuckte mit den Achseln. »Wir beliefern die Hälfte der Stände an der El Conde.«
»Wirklich?«, sagte Jill beeindruckt.
»Auch die teuren Boutiquen. Sie kennen sicher das Hotel Hispaniola. Wir haben einen Laden dort. Vor allem Seide kommt gut an.«
Jill nickte und hob die Augenbrauen. Ihre Eltern gingen gern in das Kasino im Hotel.
»Sie sind so jung«, meinte Jill staunend und ging zum nächsten Kleiderständer weiter.
Marie lachte. »So jung auch wieder nicht. Ich leiste mir einfach ein gutes Make-up. Da lässt sich einiges kaschieren.« Sie blickte sich um und sah auf die Omega-Uhr an ihrem Handgelenk hinunter. »O Gott, apropos Hotel – ich treffe mich mit meinem Mann im Las Canas, das kennen Sie ja sicher.«
Jill schüttelte den Kopf.
»Da kann man den Tag sehr schön ausklingen lassen.« Marie wandte sich zum Gehen. »Woher kommen Sie übrigens?«
»Chicago.«
»Oh, ich liebe Chicago«, sagte die Frau wehmütig, winkte dem Mädchen noch einmal zu und ging.
Jill wandte sich wieder den Sarongs zu und hörte wenige Augenblicke später, wie jemand ihren Namen rief.
»Jill?«
Marie stand ein paar Meter entfernt und sah zu ihr herüber.
»Wissen Sie, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, aber manchmal vergesse ich einfach meine Manieren. Kommen Sie bitte ...« – sie winkte das Mädchen zu sich – »ich gebe Ihnen etwas, mit dem Sie sich in Chicago sehen lassen können, ein Original aus meiner Kollektion, reine Seide und gratis für das hübsche Mädchen, das ich fast umgerannt hätte.«
Jill zögerte.
Marie verzog das Gesicht. »In so etwas können Sie sich doch nicht sehen lassen. Das lasse ich nicht zu.«
»Das geht doch nicht«, meinte Jill.
»Aber sicher geht das, und das gehört sich auch so. Ich hätte Ihnen das gleich anbieten sollen, und nicht erst jetzt.«
»Sind Sie sicher? Müssen Sie nicht weg?«
»Der Van mit den Kleidern steht ganz in der Nähe. Ich habe immer eine Kiste mit, für den Fall, dass einer meiner Läden etwas braucht. Sie können dafür ja etwas Nettes für eine Touristin tun, wenn Sie wieder daheim in Amerika sind.«
Jill lächelte und beeilte sich, mit der Frau Schritt zu halten, als sie sich durch die Menge vom Parque Colon zum Parque Independencia kämpften. Sie überquerten eine belebte Straße und gelangten schließlich in eine enge Gasse mit überquellenden Müllcontainern. Marie blieb bei einem pinkfarbenen Van stehen und öffnete eine Seitentür. Dann stieg sie in den Wagen, und Jill sah einen Kleiderständer und mehrere Schachteln auf dem Boden.
Marie hämmerte mit der Faust auf eine der Schachteln, zerriss das Klebeband, mit dem sie verschlossen war, und öffnete den Deckel. »Kommen Sie rein«, forderte sie Jill auf. »Suchen Sie sich eins von den kleinen aus, die werden Ihnen
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