Blinde Angst
hätte Aleksandra möglicherweise die Gelegenheit gegeben, ihn niederzuschlagen.
Das Risiko erschien ihr jedoch zu groß. Blitzschnell wirbelte sie herum und stürmte auf den dicken Mann zu, während sie mit der einen Hand ihre Pistole zog und die andere hochriss, um den Schlag abzuwehren, den ihr der Mann mit seiner Flinte verpassen wollte. Er schwang sie wie eine Keule. Sie hörte ihre Hand knacken, als der Lauf sie traf, feuerte einen ungezielten Schuss ab, der in die Decke ging, und dann noch einen, der einen roten Strich über den dicken Bauch des Mannes zog, während sie auf dem Boden aufschlug.
Der Dicke griff sich verdutzt an den Bauch, und als er sah, dass da kein Loch war, stürzte er sich brüllend auf sie, um sie am Hals zu packen – doch diesmal verfehlte Aleksandra ihr Ziel nicht. Das 9-mm-Hydra-Shok-Projektil bohrte sich durch den Bauch des Mannes und hinterließ ein 13 mm großes Loch in seinem Rücken. Er kam nicht mehr dazu, die Finger um ihren Hals zu legen.
Dann traf sie der Kolben der abgesägten Schrotflinte an der Schläfe, und sie hörte Holz splittern. Aleksandra sah eine weiße Explosion vor ihren Augen und versuchte die Knie an die Brust hochzuziehen, um sich instinktiv möglichst klein zu machen. Ihre unverletzte Hand mit der Pistole schwenkte sie nahe an der Brust hin und her, ohne zu wissen, wohin sie schießen sollte.
Der Mann mit der Lederjacke trat auf ihr Handgelenk und drückte ihr die Pistole gegen die Rippen. Dann hörte sie ein Pfeifen in der Luft, als der Kolben der Schrotflinte erneut auf sie niederging.
Sie konnte sich noch an einige Dinge erinnern, die danach passierten. Sie spürte eine warme Flüssigkeit hinter dem Ohr. Irgendwann glaubte sie das Tuten einer Schiffspfeife zu hören. Einmal spürte sie das Gewicht eines männlichen Körpers, der sie niederdrückte. Als sie wieder zu sich kam, trug sie fremde Kleider und war in einem dunklen engen Raum eingepfercht, zusammen mit anderen Frauen um sie herum.
Wenn es so etwas wie Schicksal gab, dann hatte es sie wohl diesen Leuten ausgeliefert. Doch Aleksandra glaubte nicht an Schicksal – vor allem konnte sie nicht an ein solches Schicksal glauben.
Sie wusste, dass die anderen darüber grübelten, was sie anders hätten machen sollen. Sie waren unter einem Vorwand hierher gelockt worden und dachten jetzt über ihre Entschlüsse nach, mit denen sie ihr Leben so dramatisch verändert hatten.
Es schien einfach nicht fair, dass so kleine Dinge eine Ewigkeit nachwirken sollten, und doch war es so. Ein Ereignis bestimmte den Verlauf der ganzen Geschichte. Anstatt hier im Laderaum eines Frachters gefangen zu sein, hätte sie in einem Ruderboot im Lazienkipark sitzen und mit ihrem Freund die Silvesterfeier planen können.
Eines der Mädchen stöhnte in der Dunkelheit, doch es war schwer zu sagen, ob sie Schmerzen hatte oder einfach nur unter der quälenden Gewissheit litt. Die meisten der Mädchen waren vergewaltigt worden, bevor das Schiff auslief. Sie selbst war sich sicher, ebenso vergewaltigt worden zu sein – vielleicht vom Leiter der Zollbehörde persönlich. Er hatte es sich bestimmt nicht nehmen lassen, sich noch einmal zu vergnügen, bevor er die Mädchen auf die Reise schickte.
Sie starrte zu den Stahlwänden hinauf, die sich rings um sie erhoben, und blickte wieder auf das tote Mädchen hinunter. Der kleine Rotschopf hatte den Besatzungsmitgliedern den Spaß geraubt, sie zu missbrauchen.
Aleksandra fragte sich, ob diesem Mädchen nicht in Wirklichkeit einiges erspart geblieben war.
5
Santo Domingo, Dominikanische Republik
2008
Das Café Bo-Bo war zur Essenszeit leer, die Touristen gingen zu ihren Bussen oder zu einem der Kreuzfahrtschiffe im Hafen.
Die Bishop-Schwestern saßen einander gegenüber an einem hohen Bartisch, die Absätze auf die hölzernen Hocker gestützt, und schlürften ihre Drinks mit kleinen Strohhalmen. Jill, die ihren achtzehnten Geburtstag feiern würde, bevor ihr Kreuzfahrtschiff nach Miami zurückkehrte, trug ein Peasant-Shirt und einen Jeans-Minirock, dazu weiße Sportsocken und Nike-Laufschuhe. Sie trank einen Erdbeer-Daiquiri. Ihre fünf Jahre ältere Schwester Theresa war barfuß und hatte Blasen an den Füßen; sie trug einen Versace-Bikini und einen Wickelrock und trank schon ihren zweiten salzigen Margarita. Ihre paillettenbesetzten Anne-Klein-Sandalen hatte sie neben sich auf dem Boden liegen.
»Hast du Moms Armband gesehen?«
Jill nickte und rieb sich die Arme, die von
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