Blinde Angst
gefallen.«
Jill stieg in den Wagen, während Marie die Schildchen durchsah. Dann hörte sie schnelle Schritte hinter ihr auf dem Bürgersteig. Jill wollte sich umdrehen, doch die Tür war bereits zu, und plötzlich war da ein Messer an ihrer Kehle.
»Keinen Mucks.« Maries Stimme klang nun gar nicht mehr freundlich. »Leg dich auf den Bauch und leg die Hände auf den Rücken.«
»Nein«, rief Jill, »bitte, nein.« Sie wehrte sich.
Marie stieß sie mit dem Gesicht voraus in die Kleider auf dem Boden des Vans, und Jill spürte die scharfe Messerspitze an ihrem Hals.
Ein Mann setzte sich ans Lenkrad und ließ den Motor an.
»Hände zurück«, zischte Marie erneut, und Jill tat, was sie verlangte.
Marie fesselte ihre Hände mit Klebeband, danach auch ihre Fußgelenke, und klebte ihr schließlich den Mund zu. Das Ganze dauerte höchstens eine Minute.
Marie stand auf, und Jill reckte den Hals und sah, wie sich der Vorhang zwischen dem Fahrerhaus und dem Ladebereich leicht bewegte, als der Van losfuhr.
Marie ging nach vorne und ließ sie im Dunkeln zurück.
Der Van brauste durch schmale Straßen und holperte in engen Kurven über die Randsteine, dass sie mit dem Hinterkopf hart gegen den Boden schlug. Sie zwang sich, tief durch die Nase einzuatmen und zu versuchen, ihren Herzschlag zu beruhigen. Fünf Minuten vergingen, dann zehn. Niemand hatte gesehen, was passiert war. Niemand verfolgte den Wagen. Sie war ganz einfach verschwunden.
Ihre Schwester würde sich bestimmt keine Sorgen machen. Oder vielleicht erst, nachdem sie ihren nächsten Margarita ausgetrunken hatte. Denn dann würde es Zeit sein, auf das Schiff zurückzukehren – aber wahrscheinlich würde sie sich auch da noch nicht die Mühe machen, nach ihr zu suchen. Sie würde wohl einfach ihre Sandalen nehmen und zurückhumpeln, um vor dem Essen noch zu duschen.
Was war passiert?, fragte sie sich immer wieder. Warum sie? Waren sie ihr gefolgt? Wussten sie, wer sie war?
Sie hatte in der Schule gehört, dass Entführungen in Südamerika etwas fast Alltägliches waren. Immer mehr Verbrecher machten heute Geld damit, dass sie Menschen auf offener Straße verschleppten. Aber diese Leute mussten doch wissen, dass sie ihre Eltern im Moment gar nicht erreichen konnten. Sie hatte der Frau, die sich Marie nannte, gesagt, dass sie mit einem Kreuzfahrtschiff gekommen war.
Sie versuchte die Panik zu unterdrücken, während der Wagen durch die Straßen der Stadt jagte. Die Geräuschkulisse aus Motorenlärm, Sirenen und wütendem Hupen drang zu ihr herein, während der Fahrer den Wagen nach links und rechts herumriss, sodass sie zwischen den Kleiderschachteln hin und her rollte.
Sie war sich sicher, dass der Fahrer jeden Moment hinter irgendeinem Haus anhalten würde, um sie auszurauben und mit leerer Handtasche aus dem Wagen zu werfen – doch der Van rollte immer weiter, von einer Straße zur nächsten, einen Kilometer nach dem anderen.
Wo brachten sie sie nur hin?
Jill spürte warmes Blut von der Stelle herunterrinnen, wo Marie sie mit dem Messer geritzt hatte. Ihre Wange rieb an dem schmutzigen Metallboden des Wagens. Durch den Tränenschleier sah sie ihre Handtasche beim Vorhang liegen. Warum sahen sie denn nicht hinein? Sie lag einfach nur da, eine brandneue lederne Coach-Tasche mit vier frischen Hundertdollarscheinen, die ihr Vater ihr gegeben hatte, als sie Miami verließen. Wenn die Entführer Geld wollten -warum nahmen sie nicht einfach das, was in ihrer Handtasche war?
Sie hob den Kopf und blickte hinter sich. Vor der Hecktür hing eine Metallstange mit Sarongs an Drahtkleiderbügeln. Neben ihr auf dem Boden lagen offene Schachteln und einzelne Kleidungsstücke. Waren sie wirklich Straßenverkäufer oder war das nur eine Masche, um jemanden wie sie in eine abgelegene Gasse zu locken?
Sie hörte Hupen plärren, Musik dröhnen und Leute rufen, dann das Aufheulen eines vorbeifahrenden Motorrollers. Und schließlich ließ der Van das alles hinter sich. Möglicherweise waren sie auf eine Autobahn aufgefahren, die aus der Stadt hinausführte, denn es war nichts mehr zu hören als das monotone Brummen des Wagens.
Sie wusste, was passieren würde, wenn ihre Mutter bemerkte, dass sie nicht auf dem Schiff war. Sie würde durchdrehen. Sie würde darauf bestehen, dass das ganze Schiff durchsucht wurde. Wenn sich herausstellte, dass sie nicht an Bord war, würde sie die ganze Insel auf den Kopf stellen lassen. Ihre Mom ließ sich sicher nicht mit irgendwelchen
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