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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George D Shuman
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Ausreden von der Polizei abspeisen. Sie würde Onkel Adel anrufen. Jills Vater war wohl mehrfacher Millionär, aber sein Bruder Adel war Bundesanwalt und hatte Einfluss in Washington. Adel kann alles regeln, wie Jills Vater immer sagte.
    Früher oder später würden sie sie auffordern, entweder im Schiff anzurufen, um so an ihre Eltern heranzukommen, oder bei Verwandten in den Staaten. So machten das Entführer ja schließlich immer.
    Sie wünschte, sie hätten ihr nicht den Mund zugeklebt.
    Sie hätte ihnen sagen können, dass ihr Handy in der Handtasche war. Ihr Vater hatte ihnen neue SIM-Karten gekauft, damit die Handys der Mädchen auch hier auf den Inseln funktionierten. Er wollte, dass sie sich gegenseitig immer erreichen konnten, wenn sie nicht beisammen waren.
    Minuten später hörte sie ein gedämpftes Geräusch, eine vertraute Melodie, die aus ihrer Handtasche kam. Es war ihr Klingelton, ihr Handy!
    Marie stand vom Beifahrersitz auf, zog den Vorhang zurück und kam nach hinten, um die Handtasche zu holen.
    Es konnte ihre Schwester sein, oder ihre Eltern. Wenn es Theresa war, würde sie ziemlich sauer sein. Sie würde wissen wollen, wo sie sich verdammt noch mal herumtrieb. Sie hoffte, dass ihre Schwester die Sache ernst nehmen würde, wenn Marie mit ihr sprach. Sie hoffte, dass sie nichts Dummes sagte oder einfach auflegte, weil sie meinte, dass man sie auf den Arm nehmen wollte.
    Marie nahm die Handtasche und öffnete sie, während sie auf den Beifahrersitz zurückkehrte. Jill wartete angespannt darauf, was sie sagen würde.
    Das Telefon klingelte weiter – dreimal, viermal...
    Damit war die Sache wohl erledigt, dachte sie.
    Fünftes Klingeln ...
    Sie würden gar keine Polizei brauchen. Alles würde vorbei sein, bevor überhaupt jemand wusste, dass sie vermisst war.
    Sechstes Klingeln ...
    Um Himmels willen, hebt endlich ab! Nehmt den verdammten Anruf entgegen!
    Sie spürte einen kalten Lufthauch. Ein Fenster wurde geöffnet und ging im nächsten Augenblick wieder hoch. Dann war Stille.
    Jill hatte plötzlich das Gefühl zu fallen, so als wäre ihr das Seil aus den Händen geglitten, mit dem sie mit der Welt verbunden war. Einen Moment lang war sie verwirrt und fragte sich, wo sie war – an irgendeinem kalten Ort, irgendwo, wo sie nicht hingehörte. Ein Schweißtropfen lief ihr über die Kopfhaut und kitzelte sie hinten am Ohr. Sie zitterte, ihre Zähne begannen zu klappern. Sie spürte, wie sich ihre Brust hob und senkte, während sie immer schneller atmete.
    Das alles war so falsch, so sinnlos, und doch so eindeutig. Wenn es ihnen nicht um das Geld in ihrer Handtasche ging und auch nicht darum, mit ihrer Familie Kontakt aufzunehmen, dann hatte sie wirklich Grund zur Sorge.
    Zum ersten Mal begann Jill das Undenkbare zu denken.
    Nach einer guten Stunde kam der Van schließlich zum Stillstand. Der Fahrer sprach mit jemandem draußen – es klang routinemäßig, wie etwas, das hier jeden Tag Hunderte Male vor sich ging –, und sie hörte das Rascheln von Papieren. Sie waren an einem Grenzübergang.
    Es gab nur eine Staatsgrenze hier auf der Insel Hispa-niola, das wusste Jill mit Sicherheit – die Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti. Jill konnte darin nur eines sehen.
    Ein Tor zur Hölle.
    Als der Van sich wieder in Bewegung setzte, wusste sie, dass ihr Leben an einem Wendepunkt angelangt war. Sie wusste, dass sie ab hier nie wieder so leben konnte wie vorher. Sie wusste, dass mit jedem Kilometer das Undenkbare ein wenig mehr Wirklichkeit wurde.
    Der Van hielt an, um zu tanken, doch dann ging die Fahrt für mehrere Stunden weiter. Jill wurde zunehmend verwirrt; einmal glaubte sie, ihre Mutter und ihren Vater sprechen zu hören; sie fühlte sich wie als kleines Mädchen auf dem Rücksitz ihres Autos. Sie verlor jedes Zeitgefühl. In klareren Momenten fiel ihr auf, dass die Straßen immer schlechter wurden – sie ließen die Zivilisation hinter sich. Sie musste pinkeln, sie musste die verkrampften Muskeln in ihren Armen lockern, sie musste den schlechten Geschmack aus ihrem Mund spülen, aber vor allem hätte sie jemanden gebraucht, der ihr sagte, dass alles in Ordnung war. Dass alles gut werden würde.
    Die Straße wand sich viele Kilometer dahin, mit Erde und Steinen unter den Reifen. Dann wurden sie langsamer, und ferne Stimmen zogen sie in die Wirklichkeit zurück. Jemand stand draußen vor dem Van, da war gedämpftes Lachen, quietschende Tore, Schritte, und dann kam der Wagen zum

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