Blinde Angst
Stillstand. Die Türen an der Fahrer- und Beifahrerseite gingen auf und wurden wieder zugeschlagen.
Die Tür zum Ladebereich glitt zurück, und sie blickte in das Gesicht eines hageren schwarzen Mannes. Er stand hinter dem grellen Licht eines Scheinwerfers. Am Gürtel trug er eine Pistole in einem Halfter. Er hatte ein heiles Auge, es war braun – das andere sah aus wie eine große weiße Murmel.
Marie kletterte zu Jill in den Wagen, schnitt die Klebebänder durch, mit denen sie gefesselt war, und zog sie an den Schultern hoch. Die Frau vermied es, ihr in die Augen zu sehen, als sie sie zur Tür schob.
Jill schwang die Beine hinaus, und im nächsten Augenblick hatte sie festen Boden unter ihren Sneakers. Ihre Augen wurden vom grellen Scheinwerferlicht geblendet. Die Frau warf die Handtasche neben ihr auf den Boden, das Geld war immer noch drin.
Der schwarze Mann gab Marie eine dicke braune Papiertüte, die sie dem Fahrer hinwarf, dann zog sie die Autotür hinter sich zu. Im nächsten Augenblick verschwanden die Rücklichter hinter den Toren, die sich langsam schlossen.
Jill stand allein da, zitternd, von bewaffneten Männern umgeben.
Sie standen vor einem riesigen Gebäude, alt und hoch, mit Türmen wie die einer Kirche.
Sie sah Stacheldrahtrollen in dem umzäunten Gelände. Zwei Männer mit schwarzen Hemden und Jeans standen an den Toren. Einer der beiden hatte Dreadlocks und trug einen Hut; der andere war älter und dicker und starrte sie begehrlich an. Neben ihnen stand ein Militärlastwagen, dessen Ladefläche mit einer Plane bedeckt war.
Der Mann mit dem Glasauge nickte, und zwei der bewaffneten Männer zogen sie zu einer Tür, die in den Keller des alten Gemäuers führte.
Drinnen gelangten sie in katakombenartige Gänge. Sie brachten sie in einen großen Raum, der von nackten Glühbirnen beleuchtet war. An einer Wand sah sie eine Reihe von Holztüren, jede mit einem kleinen offenen Fenster, das mit Drahtgittern bespannt war.
Sie wurde in die Mitte des Raumes geführt, dann traten die Männer von ihr zurück.
Sie begann zu sprechen, und der einäugige Mann schlug ihr hart ins Gesicht.
Jill hatte den Geschmack von Blut im Mund, als er ihr Hemd am Kragen packte und es vom Hals bis zur Taille aufriss, dass die Knöpfe auf dem staubigen Lehmboden verstreut wurden. Er zog die Pistole aus seinem Gürtel und setzte sie ihr an die Stirn.
»Zieh dich aus«, sagte er.
»Geld«, flüsterte sie heiser. »Mein Vater hat...«
Er spannte den Hahn der Pistole.
Sie zog das Hemd aus und ließ es in den Staub fallen.
Die Pistole blieb an ihrer Stirn.
In ihrem Kopf drehte sich alles, so als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, doch irgendwie hielt sie sich auf den Beinen. Sie öffnete ihren Rock und ließ ihn zu Boden fallen, dann das Top und die Bikinihose. Er zwang sie, in ihren Socken und Nike-Sneakers niederzuknien.
Und dann begann es.
6
Karibik
Der Mond stand hoch über dem Meer, die Lichter leuchteten auf den Deckaufbauten der strahlend weißen Constellation, dem Flaggschiff der Caribbean-Star-Flotte, das soeben aus dem Hafen von Santo Domingo auf die glänzende schwarze See hinausglitt. Die Decks waren voller Touristen, die kurz zuvor, mit ihren Einkäufen beladen, von den Stränden und Märkten auf das Schiff zurückgekehrt waren.
Die Essenszeit war nicht mehr fern, und unten spielte eine Reggae-Band am Pool, wo die Gäste bereits die Strandkleidung gegen Smoking und Abendkleid gewechselt hatten. Sie trafen sich in den Cocktailbars und warteten darauf, ihre Plätze in einem der Ballsäle des Schiffes einzunehmen.
Um acht Uhr saßen sie dann am Kapitänstisch, und der ganze Saal war mit weißen Kerzen erleuchtet. Goldfarbener Champagner perlte in eleganten Flöten. Ringsum sah man lächelnde Gesichter, strahlend weiße Zähne und leicht verbrannte Haut, während man einander von den Abenteuern in der Dominikanischen Republik erzählte. In den dreizehn Tagen, die man hier auf See war, hielt man sich die Welt vom Leibe. Niemand kam und klopfte aufgeregt an die Tür, es kamen keine Briefe von einer Regierungsbehörde oder von irgendwelchen Anwälten, und keine irrtümlichen Anrufe schreckten einen mitten in der Nacht aus dem Schlaf und verursachten einem Herzklopfen. Für zwei Wochen war das Schiff ein Zufluchtsort vor den Widrigkeiten der Welt.
So hatte es Carol zumindest bis jetzt gesehen. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass ein Mensch auf so einem Schiff die schlimmsten Momente seines
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