Blinde Angst
Sie sah es in den schönen Augen des polnischen Mädchens. Diese Leute hatten sie in dem roten Raum nicht gefoltert, als sie dort auf den Stuhl geschnallt war. Sie hatten sie tätowiert. Sie hatte genau so einen grinsenden Totenkopf mit Zylinder auf der Wange wie Aleksandra.
Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatten sie gebrandmarkt, um sie zu verkaufen. Diese Männer dachten nicht daran, sie jemals wieder freizulassen. Sie war in einer Situation, die sich mit Worten und Geld nicht regeln ließ.
Sie brach vollends zusammen, wälzte sich schluchzend auf dem Boden und heulte immer lauter. Wie konnte so etwas nur passieren? Warum ausgerechnet ihr? Sie ging fast nie auf Partys. Sie trank und rauchte nicht und nahm auch keine Drogen – nicht einmal Kaffee rührte sie an. Statt sich zu amüsieren, bemühte sie sich stets, anderen zu helfen und irgendetwas Gutes zu tun. Aleksandra versuchte sie zu beruhigen.
»Kann ich bald nach Hause?«, jammerte sie. »Können wir jetzt gehen?«
Aleksandra legte den Kopf des Mädchens in ihren Schoß und streichelte ihre Haare, bis sich Jill irgendwann ausgeweint hatte und in ihren Armen einschlief.
Sie wachte am Abend wieder auf, als die Wächter ihnen etwas zu essen brachten. Sie aß völlig apathisch, starrte benommen zur Decke hinauf und wusste nicht mehr, was sie fühlte.
Sie wusste, dass ihre Eltern nun in Santo Domingo waren, nur wenige Stunden entfernt, obwohl es genauso gut hunderttausend Kilometer hätten sein können. Ihre Eltern waren bestimmt verrückt vor Angst um sie. Sie machte sich Sorgen um ihren Vater, der immer Probleme mit dem Herz bekam, wenn er sich zu sehr aufregte. Sie wollte ihm so gern sagen, dass alles gut werden würde, und auch, dass es ihr leidtat; was hatte sie sich nur dabei gedacht, einfach in einen fremden Wagen zu steigen – noch dazu in einem fremden Land?
Als Nächstes fühlte sie Zorn – auf ihre ältere Schwester, die mit ihren Blasen an den Füßen nicht mit ihr zum Marktplatz hatte zurückgehen können. Sie war wütend auf die Männer, die sie von vorne und von hinten vergewaltigt hatten. Wütend auch auf den Mann mit der Brille, der sie mit Drogen vollgepumpt und ihr Gesicht tätowiert hatte, und wütend sogar wegen der Schuldgefühle, die sie verspürte, weil sie gedacht hatte, ihr würde es nicht so ergehen wie den anderen, weil sie eine Amerikanerin war, aus Oak Park, Illinois.
Als sich die Wut schließlich legte, spürte sie tiefe Erschöpfung, und dann nichts als hoffnungslose Resignation.
Die erste Woche war die schlimmste. In der ersten Woche glaubte man noch daran, dass es eine Chance auf Rettung gab. Jedes Geräusch von draußen – schnelle Schritte, das Knattern eines tief fliegenden Hubschraubers – bedeutete, dass man bald frei war. Aber wenn sich die Hoffnung einfach nicht erfüllte, verlor man den Glauben.
Jeden Abend wurden sie von dem Mann mit der Brille untersucht – die Wächter nannten ihn Docte. Er suchte nach irgendwelchen Auswirkungen der Drogen oder nach selbst zugefügten Wunden. Jill wusste mittlerweile, was sie zu erwarten hatte. Sie wusste, dass die einschläfernde Spritze in Wahrheit Heroin war. Heroin war ein billiges und hochwirksames Mittel, um sie im Zaum zu halten.
Aleksandra meinte, dass der Docte die Dosis immer weiter erhöhen würde, bis sie eines Tages an nichts anderes denken konnte als an seinen abendlichen Besuch. Aleksandra sagte, dass sie schon an diesem Punkt sei, und Jill zweifelte nicht daran, dass es ihr genauso ergehen würde. Alles andere, was Aleksandra ihr angekündigt hatte, war bereits eingetreten. Der Doktor nahm ihr Blut ab. Später führte er einen Eingriff in der Vagina durch, ohne Narkose. Laut Aleksandra verschloss man ihnen allen die Eileiter mit Metallklammern. Ein Eingriff, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Sie war für immer unfruchtbar.
Sie solle sich nicht dagegen wehren, riet ihr Aleksandra. Sie solle ihnen ihren Körper freiwillig überlassen, in der Hoffnung auf ein Morgen, auf eine mögliche Rettung oder auf eine Gelegenheit zur Flucht. Die Alternative wäre, auf dem Markt weiterverkauft zu werden, an einen neuen Herrn, der sie seinerseits mit Drogen vollpumpte.
Das Licht im Keller war immer gleich, Tag und Nacht. Als Toilette hatten sie einen Sitz, der auf eine Holzkiste geschraubt war. Die Wächter brachten ihnen einen Eimer Wasser zum Trinken und Waschen. Einmal am Tag wurden sie in einen Raum mit Duschköpfen geführt.
Gegenüber der Reihe
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