Blinde Angst
ihr mit der Hand den Mund zu.
»Nicht«, flüsterte die Frau. »Du musst still sein.«
Jill starrte Aleksandra vorwurfsvoll an. Sie wand sich unter den Armen der drahtigen Frau, konnte sich aber nicht befreien.
»Der Mann, der hier das Sagen hat, ist der, der dir das alles angetan hat. Es ist der Einäugige, der hier die Befehle gibt. Wenn du dich ihm widersetzt, dann bringt er dich wieder in den roten Raum – und es gibt noch schlimmere Dinge, als vergewaltigt zu werden.«
Das hier sei ein Ort, erklärte Aleksandra, wo die Frauen gefügig gemacht wurden, bevor man sie nach Südamerika verkaufte. Die Behörden in Haiti seien korrupt, fügte sie hinzu. Die Polizei, die Staatsanwälte, die Richter – sie würden alle miteinander wegsehen.
»Sie wollen uns hier Gehorsam einbläuen«, sagte Aleksandra. »Wenn du dich in irgendeiner Weise wehrst, werden sie an dir ein Exempel statuieren, um den anderen Angst zu machen.«
Jill hörte auf, sich zu wehren, auch wenn sie nicht wirklich überzeugt war. Sie hatte sehr wohl von Menschenhandel gehört, doch sie hatte noch nie darüber nachgedacht, mit wem da gehandelt wurde, oder aus welchen Gründen. Die Opfer waren ihr als unscharfe Bilder im Hinterkopf geblieben – längst nicht so klar und deutlich wie die afrikanischen Kinder, die sich die Fliegen aus den Augen wischten, wie man sie bei Live-Aid-Konzerten auf Videoleinwänden sah.
Menschenhandel war überhaupt ein Thema, das ihr irgendwie schwer fassbar erschien – nicht so klar definiert wie beispielsweise AIDS oder ethnische Säuberungen, mehr eine Sache im Verborgenen, wie schwarze Löcher oder Quantenphysik. Es war etwas, von dem die Leute zwar glaubten, dass es existierte, von dem aber keiner so recht zu wissen schien, was es wirklich war. Es war durchaus Realität, aber eben nicht die ihre.
Allein das Wort Handel weckte schon zwiespältige Assoziationen, weil da immer der Verdacht mitschwang, dass die Opfer vielleicht nicht ganz unschuldig an ihrem Schicksal sein könnten, dass sie vielleicht selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt waren, wie zum Beispiel illegale Spiele, Drogenhandel oder Prostitution. Jill hätte wohl eingeräumt, dass es in der Dritten Welt wahrscheinlich Bevölkerungsgruppen gab, die gegen ihren Willen verschleppt wurden, irgendwelche Stämme, die über eine Grenze gebracht und von anderen ausgebeutet wurden. Solche Dinge passierten wahrscheinlich schon seit es Menschen gab. Und sicher kam es auch gelegentlich vor, dass eine Frau auf offener Straße entführt wurde, um sie als Prostituierte arbeiten zu lassen – aber so etwas konnte sie sich vielleicht in Russland vorstellen, in Afrika oder in China. Jedenfalls nicht hier in der Karibik, keine tausend Meilen von der Küste der Vereinigten Staaten entfernt. Solche Dinge passierten hier einfach nicht. Man ging doch nicht eines Tages in einem friedlichen Einkaufsparadies shoppen, um sich am nächsten Tag als Sklavin in irgendeinem Dschungel wiederzufinden.
Das, was Alexandra ihr zu verstehen geben wollte, dass sie verkauft werden sollte, um für den Rest ihres Lebens nichts anderes als eine Sexsklavin zu sein, war einfach undenkbar. Und wenn man bedachte, dass sie heute schon einmal getäuscht worden war, musste man sich fragen, wer diese Aleksandra überhaupt war. Sie war schmutzig und zerlumpt und hatte dieses vulgäre Tattoo im Gesicht – ein grinsender Totenkopf mit einem Zylinder. Die Tätowierung sagte eigentlich alles; seriöse Leute entstellten sich nicht dermaßen das Gesicht. Aleksandra hatte sich bestimmt schon früher auf irgendwelche zwielichtigen Dinge eingelassen, vielleicht Pornografie, und so war sie wahrscheinlich hier gelandet.
Jill kannte diese Sorte Mädchen. Es gab sie in jeder Schule. Aleksandra gehörte bestimmt zu diesen frühreifen Mädchen, die Ärger geradezu herausforderten. Sie war anderes als Jill, und deshalb musste Jill unbedingt mit diesen Männern reden.
Doch wie sie so in ihrem Dreck lag und zu Aleksandra aufblickte, begann ihr schließlich die Wahrheit zu dämmern. Sie starrte in das hagere Gesicht der Frau, dann in ihre Augen, und sie spürte etwas Ekelhaftes aus der Magengrube hochkriechen, in die Brust, den Hals und bis in ihr Gesicht.
Sie hob eine Hand an den Verband unter ihrem rechten Auge, doch bevor sie ihn berührte, hielt sie inne und griff stattdessen an Aleksandras Gesicht. Mit einem Finger strich sie die Umrisse der Tätowierung entlang.
In diesem Augenblick begriff sie alles.
Weitere Kostenlose Bücher