Blinde Angst
Morgen im Osten erzählte, am Abend auch im Westen bekannt.
»Die Frau, die für die Jesuiten kocht, Mrs. Lambert -also, ihr Sohn arbeitet bei der Drogenpolizei in Port-au-Prince.«
Hettie nickte, die Augen auf die Baumstümpfe am Berghang über ihnen gerichtet.
»Er ist dort für die Computer zuständig«, erläuterte Etienne kopfnickend, während er das vibrierende Lenkrad mit beiden Händen festhielt. »Sein Chef wollte heute von ihm, dass er Informationen über eine Frau sucht. Sie stand auf einer Liste von Passagieren, die aus der Dominikanischen Republik nach Haiti kommen sollten. Er hat gesagt, dass man über die Frau viel im Internet findet. Sie ist so was wie eine Priesterin, eine Mambo aus den Vereinigten Staaten. Eine weiße Mambo.«
»Kannst du dich vielleicht ein bisschen deutlicher ausdrücken?«, erwiderte Hettie. »Und pass auf, wo du hinfährst.«
»Sie berührt die Toten.«
Hettie sah Etienne an.
Er zuckte mit den Achseln. »Genau das hat Mrs. Lambert gesagt.«
Hettie blickte auf und sah einen Korb mit Knochen am Ast eines Mapou-Baumes hängen.
Die Mapou sind heilige Bäume in Haiti – man glaubt, dass die Geister der Ahnen in den Wurzeln wohnen. Die Dorfbewohner wagten es nicht, die wenigen Exemplare, die es noch gab, zu verbrennen. Oft hängten sie ihre Gaben für die Geister an die Zweige.
Der Wagen kam an weiteren Bäumen vorbei. Da hingen Brotbeutel mit faulendem Obst, leere Rumflaschen, bunte Tücher, Muscheln und Bilder von Heiligen und ehemaligen Präsidenten, auf Pappe geklebt.
»Und was kann sie tun, wenn sie die Toten berührt?«, fragte Hettie und bemühte sich, ihre Neugier zu verbergen.
»Sie weiß, was sie denken.«
»Spricht sie mit ihnen?«
Etienne zuckte mit den Achseln. »Sie hält ihre Hand, hat er Mrs. Lambert erzählt. Er hat gesagt, sie ist blind.«
»Blind«, flüsterte Hettie und dachte sofort an den Hun-gan, der ebenfalls die Hände der Toten hielt.
Etienne nickte. »Verrückt, was? Was ist, wenn sie zu Pioche kommt?«
»Etienne«, sagte Hettie schockiert, »wie kommst du darauf?«
»Mrs. Lambert sagt, sie kommt nach Tiburon«, erläuterte Etienne achselzuckend. »Das steht auf dem Zollformular.«
Hetties Herz machte einen Sprung.
Kurz vor dem zerklüfteten Gipfel des Morne Mansinte schlängelte sich die Straße vom Meer weg, durch einstmals dicht bewaldetes Gebiet, wo aus den Stümpfen von gefällten Bäumen neue Triebe hervorbrachen. Die Straße unterhalb der Hütten war gerade breit genug für ein Auto, doch den Weg hinauf mussten sie zu Fuß gehen, und so stellte Etienne den Wagen vor den Toren des Friedhofs ab.
Ihre Vorfahren hatten die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass die Toten genauso anfällig für Orkane waren wie die Lebenden. Niemand wollte, dass die Knochen von Angehörigen zusammen mit den Knochen von Schweinen und Ziegen ins Meer gespült wurden, deshalb wurden Friedhöfe oft im Schutz der Berge angelegt.
Etienne betrachtete das grob gezimmerte Tor zum Friedhof. Nur wenige besuchten die Toten hier; viel wichtiger als gepflegte Gräber war den Leuten, dass die Toten hinter dem Zauber des schwarzen Kreuzes blieben und unter der Erde, wo sie hingehörten.
Pioche hätte von alldem nichts gehalten, aber Hettie glaubte daran. Die Seele verbrachte ein Jahr und einen Tag in dunklen Wassern, dann konnte sie von einem Hungan gegen Bezahlung hervorgeholt und in einem geweihten Krug, dem sogenannten Govi, versiegelt werden. Wenn sie es wünschte, konnte sie Pioche später freilassen, damit er zu den Ahnen im All gelangte, so wie Knochen und Fleisch nun in die Natur eingehen konnten, in Wurzeln, Felsen und Flüsse.
Die Verpflichtungen gegenüber einer Seele waren eine ernste Sache in der Voodoo-Religion. Seelen, die über die Erde streiften, konnten Krankheit und Unglück über eine Familie bringen. Der Kampf um Pioches Seelenfrieden würde in wenigen Tagen vorbei sein; dann würde er die Kreuzung zur Ewigkeit passieren, und Hettie konnte sich auf den Tag vorbereiten, an dem sie Pioches Seele loskaufen und Yousy für immer von diesem Ort wegbringen konnte.
Sie gingen die Straße entlang zu dem ausgetretenen Pfad, der an der Felswand vorbei zu den Hütten hinaufführte, deren Umrisse man bereits in der Dunkelheit erkennen konnte.
Hettie nahm den Geruch von gekochtem Fleisch und verwesenden Tierkadavern wahr. Es würde heute Nacht zwei Opfergaben geben, ein Huhn und eine Ziege, die sie als Opfer für Papa Ghede gebracht hatte. Aber Pioche war
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