Blinde Angst
nicht die einzige Aufgabe, der sich der Hungan heute Nacht widmen musste. Es waren Leute aus einem anderen Dorf gekommen; eine kleine Menschenmenge hatte sich bereits um den Tempel versammelt.
Der Tempel oder Humfo war mit roten, gelben und grünen Fahnen geschmückt. Ein Eimer mit rosafarbenem Wasser stand am Rand des Pavillons, der auf zwei Seiten offen und mit einem Strohdach bedeckt war. Ein Spielzeugboot aus Plastik hing an der Decke. Jemand hatte zerrissene Autositze und einen Aschenbecher in eine Ecke gestellt. Trommler in roten Hemden und Bluejeans und Hunsis in weißen Kleidern standen um einen verkrüppelten Jungen herum, der auf dem Boden lag. Hettie und Etienne traten zu den Dorfbewohnern aus Morne Epine, die zusahen, wie der Priester einen als Pfropfen verwendeten Maiskolben aus dem Hals eines enthaupteten Huhns zog und Blut auf die Füße des Jungen träufelte, die mit einem schwarzen Band zusammengebunden waren. Dann kniete sich der Hungan vor ihn; mit ausgestrecktem Arm suchte er nach dem Kopf, und als er ihn gefunden hatte, nahm er einen Schluck aus der Rumflasche und starrte mit seinen milchweißen Augen zur Decke hinauf. Schließlich beugte er sich hinunter und spuckte dem Jungen den Rum ins Gesicht.
Hettie wich zurück und ließ Etienne in der Menge zurück. Sie ging an den Rand der Lichtung, wo Pioche in seinem offenen Sarg lag. Er sah nicht mehr wirklich wie Pioche aus und roch auch nicht mehr so – offensichtlich war er schon im Begriff, diese Welt zu verlassen. Seine Haare waren voller Erde und Grashalme, und seine aufgedunsene Haut war mit Farbe, Blut und mit dem magischen Ol bedeckt, das der Hungan benutzte, um böse Zauberer fernzuhalten. Sie blickte auf das Loch in seinem Bauch, aus dem seine Eingeweide ausgetreten waren, sodass alle im Dorf sie sehen konnten.
Sie war beunruhigt wegen dieser weißen Mambo, die angeblich auf dem Weg hierher war. Ihr ganzes Leben hatte sich im Laufe einer Woche verändert, weil Pioche etwas gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen; weil er ein zu großes Herz hatte, um einfach wegzusehen und sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
War es nur ein Zufall, dass eine weiße Mambo nach Tibu-ron kam?
Sie dachte an Yousy. Yousy war lieber mit Linda, der amerikanischen Entwicklungshelferin von World Freedom, zusammen gewesen als mit den Kindern aus ihrem Dorf. Sie hatte lieber gelesen als verstecken gespielt und lieber englische Radiosender gehört, als am Strand Kickball zu spielen.
Hettie erinnerte sich noch gut an den Abend, als Pioche ihr erzählte, was er in dem Keller gesehen hatte, wo er die Sprenglöcher bohren musste. Yousy hörte an dem Abend wieder einmal Radio, und die Musik dröhnte bis zu ihnen auf die Terrasse heraus, wo sie sich flüsternd unterhielten. Doch als sie wieder ins Haus kamen, war Yousy nicht da. Sie lag nicht wie üblich neben ihrem Radio.
Pioche war hinausgelaufen und hatte sie unten am Strand in der Dunkelheit gefunden, nicht weit von der Terrasse entfernt, wo sie gesprochen hatten. Er wollte ihr ins Gewissen reden und ihr erklären, dass es sich nicht gehörte, zu lauschen, aber als er sie fragte, ob sie sie reden gehört hatte, sagte sie Nein. Hettie wusste, dass er sich nicht sicher war, ob das stimmte. Er fürchtete, Yousy könnte doch etwas gehört haben.
Und jetzt, da Hettie von diesen uniformierten Männern in Jeeps gehört hatte, war sie ebenfalls beunruhigt – und zwar wegen einer Sache, an die sie immer wieder denken musste, seit Pioches Leiche gefunden wurde.
Warum hatte Yousys amerikanische Freundin Linda unbedingt wissen wollen, wo Pioche gearbeitet hatte?
Hatte Yousy Pioches Geschichte doch mitgehört?
Hatte Yousy sie alle in Gefahr gebracht, ohne es zu wissen?
26
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Graham ging in seinem Büro in Langley, Virginia, auf und ab, während in Lyon, Frankreich, ein Telefon klingelte.
»Helmut?«, sagte er, als er seinen Kollegen in der Leitung hatte.
»Was gibt es Neues?«
»Zu der Zeit, als Unteroffizierin Aleksandra Goralski verschwand, gehörte eines der Schiffe in Danzig zu Jean Jasmines Flotte. DEA-Leute haben es vor ein paar Jahren in Caracas untersucht, als er wegen Kokainhandels hochging. Das Schiff wurde später an eine Strohfirma verkauft, aber die DEA sagt, dass es eindeutig Jean Bedard gehörte, und dass Bedard Verbindungen zum Mendoza-Kartell hatte.«
»Wie hat Bedard operiert?«
»Er hat Güter aus Mittel- und Südamerika exportiert, Sachen
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