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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George D Shuman
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sehen? Sie werden sagen, diese Bakers fühlen sich wohl wie Könige, dass sie jetzt einen Straßenköter bei sich aufnehmen und durchfüttern.«
    Hettie setzte sich neben Yousy und nahm ihr die Haarnadel, die Pioche aus Fischbein geschnitzt hatte, aus dem Haar, das füllig auf ihre Schultern fiel. Sie trug die Nadel immer, seit Pioche tot war. Der Hund sah zu ihnen auf und wedelte mit dem Schwanz, während er zwischen ihnen hin- und herblickte. »Sicher, es war die ganze Woche kein Nachbar hier – da kann es uns eigentlich egal sein, was sie denken«, fügte sie müde hinzu.
    Yousys Gesicht nahm einen sanfteren Ausdruck an – zum ersten Mal seit einer Woche. Hettie legte die Arme um ihre Tochter und hielt sie fest, während der Hund weiter zu ihnen aufblickte. »Es wird alles gut werden, Miss Yousy«, sagte Hettie. »Es wird alles gut werden, das verspreche ich dir.«
    Sie hielt Yousy ein Stück von sich weg und sah ihr in die Augen. »Dein Vater war ein sehr guter Mensch, Yousy. Er war etwas ganz Besonderes, weißt du.«
    Yousy begann zu weinen, und Hettie zog sie an ihre Schulter. »Keine Tränen mehr, meine Yousy, keine Tränen mehr. Pioche wird in Frieden ruhen, und wenn seine Seele bereit ist, dann nehmen wir ihn mit uns nach Miami – was sagst du dazu?«
    Yousy blickte zu ihr auf, und als sie in den Augen ihrer Mutter sah, dass sie es ernst meinte, lächelte sie. »Wirklich, Mama?«
    »Wirklich«, antwortete Hettie entschieden, »aber du darfst nicht darüber sprechen. Verstehst du, wie wichtig das ist? Wie wichtig es ist, dass du es niemandem sagst? In Haiti ist es gefährlich, zu viel zu sagen. Wer zu viel spricht, dem passieren schlimme Dinge hier.«
    Yousy nickte.
    Hettie sah sie lächelnd an und stand auf.
    »Wir müssen uns fertig machen für den Besuch bei deinem Vater, aber zuerst muss ich Etienne fragen, ob er uns heute Abend hinbringt. Versprichst du mir, dass du im Haus bleibst, wenn der Hund hier bei dir sein darf?«
    Yousy nickte. »Ich bleibe im Haus«, sagte sie. »Ich versprech's.«
    Yousy nahm sich ein zerfleddertes Time Magazine und legte sich neben den Hund, ihren lindgrünen Kassettenrekorder als Kissen benutzend. Das Ding hatte nie Kassetten abspielen können, aber Yousy empfing damit Radiosender aus der Dominikanischen Republik und aus Jamaika, manchmal sogar aus Kuba, wenn die Bedingungen günstig waren.
    Der Hund war süß, fand Hettie, süß und klug und verspielt; er hätte Pioche gefallen. Hettie hatte das Tier zum ersten Mal unter ihrer schlafenden Tochter auf der Terrasse gesehen, als sie in der Nacht zurückkehrte, nachdem sie Pioches Leiche zum Hungan gebracht hatte. Der Hund wartete seither jeden Morgen draußen vor der Tür auf Yousy, und heute auch schon nach der Schule.
    Es war jetzt nicht der Moment, wo man ihr noch irgendetwas wegnehmen konnte. Sollten die Nachbarn doch reden. Sie war sich sicher, dass sowieso über sie geredet wurde.
    Der Morne Mansinte unterschied sich vom Dorf Tiburon wie die Nacht vom Tag. Hettie erinnerte sich – so wie gewiss alle Dorfbewohner – an das erste Mal, dass sie als Kind auf dem Berg war, an die Angst, mit der sie den steilen Aufstieg zum Friedhof erlebte. Für ein Kind war alles, was oberhalb des freundlichen Küstengebietes lag, dunkel und geheimnisvoll. Die Beutel mit Knochen, die Magie, die hier offenbar wirksam war, die Holzsärge, die am Friedhofszaun standen und zum Teil auf noch unbekannte Leichen warteten. Als Kinder stellten sie sich manchmal vor die Särge, um die Größe zu vergleichen – doch das Lachen war stets von einem bangen Gefühl begleitet, weil immer die Angst mitschwang, dass einer der Särge ihr eigener sein könnte. Die Straße wand sich an Felswänden aus Vulkangestein nach oben. Etienne lenkte den alten Toyota langsam und vorsichtig den Berg hinauf.
    »Wisst ihr, was ich heute gehört habe?«
    »Nein, Etienne, aber ich weiß, dass du es mir gleich sagen wirst«, antwortete Hettie und blickte aus dem Fenster.
    »Die Leute erzählen sich da so eine Geschichte ...«, begann er zögernd.
    Hettie lächelte müde. Die Leute erzählten sich immer irgendwelche Geschichten in Haiti. Für ein Land, in dem weite Teile ohne Stromversorgung und Telefon auskommen mussten, verbreiteten sich Geschichten erstaunlich schnell. Es waren die Lastwagenfahrer und Händler, die Sozialarbeiter und Nonnen, Polizisten und Missionare, die sie weitertrugen – auf allen Straßen und über alle Berge; und so war das, was man sich am

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