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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George D Shuman
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die Straße geworfen hatten – und das war eine eindeutige Botschaft nicht nur an Hettie, sondern an das ganze Dorf. Und Hettie wusste, dass ihre Nachbarn davor zurückschreckten, zu ihr zu kommen, weil man vermutete, dass sie Pioches Geheimnisse kannte.
    Etienne, der junge Freund ihrer Cousine, hatte allerdings keine Angst. Etienne verkaufte Kochbananen in Port-à-Piment und fuhr Yousy in die Jesuitenschule, wenn Pioche nicht da war. Er war so freundlich gewesen, Pioches Leiche auf seinen kleinen Pick-up zu laden und die Bergstraße auf den Morne Mansinte hinaufzufahren, wo sich der Hungan bereit erklärt hatte, den Toten von dem Fluch zu befreien. An neun aufeinanderfolgenden Nächten trat der Hungan mit Pioche in Kontakt. In drei Tagen würde Pioche schließlich auf den Friedhof getragen und in geweihter Erde bestattet werden, unter dem Schutz von Papa Ghedes schwarzem Kreuz.
    Hettie wusste, dass Pioche es niemals befürwortet hätte, dass sie seine Leiche zu dem alten Hungan brachte. Andererseits hätte er sicherlich gewollt, dass Hettie alles tat, um sich selbst und Yousy vor Unheil zu schützen. Und mittlerweile wusste er sicher auch, dass der Hungan dabei war, ihn von dem Fluch zu befreien. Und dass der alte Mann wirklich Zugang zu Welten hatte, die dem Auge verborgen blieben. Wie hätte der Priester wissen können, welches Geheimnis Amauds Bild barg, wenn er es nicht von Pioche selbst erfahren hätte?
    Sie musste Yousy schützen, sie in die Vereinigten Staaten bringen und mit ihr zusammen dort neu anfangen, sobald sie Gewissheit hatte, dass Pioches Seele in Sicherheit war.
    Sie sah aus dem Fenster. Etienne würde Yousy bald nach Hause bringen. Es war ihr erster Tag in der Schule, seit Pioche tot war.
    Hettie hatte Maispudding gekocht, die Lieblingsspeise ihrer Tochter. Die Abende waren immer eine Zeit für sie beide allein gewesen. Yousy erzählte ihr oft von ihrem Schultag bei den Jesuiten und erklärte ihr manches in ihren Heften, was Hettie nicht verstand. Manchmal lernte Yousy unter ihrer Anleitung nähen, oder ihre Tochter las ihr vor. Manchmal hörten sie zusammen Radio oder gingen hinunter an den Strand, wo Hettie ihr davon erzählte, wie sie mit ihrer Mutter hier über den Strand spaziert war oder unter dem Sternenhimmel gesessen hatte.
    Sie wusste nicht, was sie heute Abend von ihr erwarten sollte. Yousy war anders als andere Dreizehnjährige – älter, aber nicht in dem Sinn, wie es Kinder waren, die in der Stadt aufwuchsen und schon von der Armut gezeichnet waren, die ständig auf der Suche nach etwas Essbarem waren und die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern mussten, obwohl sie kaum alt genug waren, um auf sich selbst aufzupassen. Yousys Klugheit lag in ihren Augen; sie schien manchmal Dinge zu verstehen, die selbst Hettie nicht zugänglich waren. Yousy interessierte sich zum Beispiel viel weniger für die Voodoo-Puppe, die man an Pioches Brust gefunden hatte, als für das Stück Papier in seinem Mund. Hettie fand es bemerkenswert, dass ihre Tochter den Zettel aufgehoben hatte, und sie spürte irgendwie, dass Yousy ihn ihrer Freundin Linda gezeigt hatte, der Entwicklungshelferin von World Freedom, die immer wieder danach fragte, wo Pioche gearbeitet hatte.
    Hettie trat auf die kleine Terrasse, die Pioche hinter ihrem Häuschen angelegt hatte, und kehrte mit einem Besen den Sand weg. Pioche hatte immer Ziegel von den Plätzen mitgebracht, an denen er arbeitete, und damit ihr kleines Haus hier und dort ausgebaut. Hettie hatte immer schon gedacht, dass Pioche das Beste war, was sie je von dieser Insel bekommen hatte. Ohne ihn würde Haiti nicht mehr dasselbe sein. Und wenn Yousy in Amerika war – was gab es dann noch hier für sie?
    Sie fragte sich, wie lange Yousy mit den 4800 Dollar in Miami würde leben können.
    »Mama.« Die Tür ging auf und Yousy trat ein.
    Hettie drehte sich zu ihr um und sah Yousy mit dem mageren braunen Hund zur Tür hereinkommen.
    »Yousy, du sollst den Hund nicht ins Haus lassen.«
    »Chaser ist ein braver Hund, Mama.«
    »Du hast ihm einen Namen gegeben!«
    »Er ist eine Sie, Mama.«
    »Hunde gehören nicht ins Haus, Yousy.«
    »In Amerika dürfen sie hinein«, erwiderte Yousy ruhig.
    Hettie sagte nichts. Was sollte man einem Mädchen sagen, das vor einer Woche seinen Vater verloren hatte?
    »Sie ist sehr klug, Mama. Willst du sehen, wie sie Platz macht?«
    »Ich will sehen, wie sie hinausgeht. Was werden die Leute sagen, wenn sie einen Hund bei uns im Haus

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