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Blinde Flecken: Schwarz ermittelt

Blinde Flecken: Schwarz ermittelt

Titel: Blinde Flecken: Schwarz ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Probst
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Schwarz. Er hatte es oft in Gedanken durchgespielt: War sein Vater ein Nazi gewesen oder seine Mutter Opfer einer Vergewaltigung geworden? Die Unsicherheit hatte ihn lange Zeit umgetrieben, aber er hatte nie direkt zu fragen gewagt. Dass es auch für seine Mutter schwer gewesen war, nicht darüber zu sprechen, war ihm nicht eingefallen.
    Alles hat Anfang 1957 mit einer harmlosen Lüge begonnen. Von meiner Ankunft im Lager Föhrenwald im September 1945 bis dahin war ich eine anständige und vor allem ehrliche Frau gewesen. Und das bedeutete etwas in diesen schweren Jahren.
    September 1945, da täuscht sie sich aber. Sie ist am 11.   Oktober 1946 mit dem ersten Transport aus Karlsbad gekommen.
    Ich hatte meinen Laden noch nicht lange eröffnet – du erinnerst dich an die gefärbten Kartoffeln, Anton – , da kam eine Frau zum Einkaufen, von der man erzählte, sie sei mit einem hohen Nazifunktionär verheiratet gewesen, der auf der Flucht vor den Russen unter einen Panzer geraten war.
Sie trug einen nagelneuen Pelzmantel und kaufte zehn Kilo, ich schwöre es dir, zehn Kilo Kartoffeln und fünf Pfund Sauerkraut! Dabei fragte sie beiläufig, mit welchem Transport denn ich ins Lager gekommen sei. Nun wusste ich nicht nur, dass sie die Witwe einer Parteigröße war, sondern immer noch dem Führer, dem sie angeblich einmal die Hand geschüttelt hatte, nachtrauerte . Sie war damals, weiß Gott, nicht die Einzige. Sie fragte mich also nach dem Datum meiner Ankunft, und mir war bewusst, dass sie eine Stammkundin werden konnte, und zwar eine, die nicht ständig anschreiben ließ. Also sagte ich: am 11.   Oktober 1946, gnädige Frau, mit hundert anderen Vertriebenen aus Karlsbad – wo es doch der September des Jahres zuvor gewesen war. Das war meine erste Lüge, mit ihr hat alles angefangen.
    Schwarz spürte, dass seine Kopfhaut zu jucken begann. Er kratzte sich, stand auf, holte sich ein Glas Wasser und las weiter.
    Anton, du ahnst nicht, was für eine Bedeutung dieses verschummelte Jahr hatte und noch bekommen sollte. Wie könntest du auch. Du weißt ja so wenig über mich.
    War das etwa mein Fehler, Mama?
    Und es ist allein meine Schuld. Ich hätte dir alles erzählen sollen. Aber dazu hätte ich so entsetzliche Geschichten ausgraben und mich an Bilder erinnern müssen, die mich beinahe für immer blind gemacht hätten.
    Es war im Spätsommer 1942, als zwei freundliche Herren – das dachte ich zuerst wirklich, weil sie so korrekt auftraten – in unsere Wohnung in Karlsbad kamen. Also , eigentlich war es gar nicht unsere Wohnung, weil Mama und ich sie mit drei anderen Familien teilen mussten und nur ein Zimmer hatten. Mein Papa war damals schon zwei Jahre tot.
    An diesem Nachmittag waren auch meine Tante Liesbeth und ihr Mann zu Besuch. Ich wurde in die Küche geschickt, aber ich schlich an die Tür, um zu lauschen. Ich hörte, wie die Stimmen der Männer laut und barsch wurden. Ich hörte meine Mutter verzweifelt schluchzen und Tante Liesbeth sie trösten. Ihr Mann sagte wie immer kein Wort.
    Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Die Männer hatten meine weinende Mutter in die Mitte genommen und führten sie ab.
    Bitte, sagte sie, lassen Sie mich wenigstens von meiner Tochter Abschied nehmen. Die Männer wollten es ihr verbieten, aber ich flog schon in Mamas Arme.
    Du musst jetzt tapfer sein, flüsterte sie, weil ich auf eine Reise gehe. Ich komme mit, erklärte ich. Nein , sagte sie, du bleibst bei Tante Liesbeth, weil es eine sehr gefährliche Reise ist. Dann gehe ich erst recht mit, sagte ich, und passe auf dich auf.
    Die Männer wurden ungeduldig.
    Wohin geht die Reise denn?, fragte ich. Das weiß ich nicht, sagte meine Mutter, aber du wirst es hier gut haben. Ich bleibe nicht hier, schrie ich, und klammerte mich an ihr fest. Tante Liesbeth redete händeringend auf mich ein, der Onkel schwieg.
    Jetzt aber los, Frau Schwarz!, befahl einer der Männer. Ich dachte nicht daran, meine Mutter allein gehen zu lassen, ich heulte und biss dem Onkel, der mich von ihr wegreißen wollte, sogar in die Hand. Dann kommst du halt auch mit, du Judenfratz, sagte einer der Männer.
    Du Judenfratz?
Schwarz las den letzten Satz noch einmal. Die Seiten begannen zu zittern, die Schrift verschwamm vor seinen Augen. So ein Unsinn, dachte er. Sie ist Egerländerin, eine von der Gmoi, eine Katholikin. Keine sehreifrige, aber doch eine, die das Kreuzzeichen macht und das Vaterunser betet.
    Du Judenfratz?
Nein, das konnte nicht sein.

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