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Blinde Flecken: Schwarz ermittelt

Blinde Flecken: Schwarz ermittelt

Titel: Blinde Flecken: Schwarz ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Probst
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bei Flüchtlingen untergeschlüpft und dann bei einer alten Dame in Wolfratshausen. Ich habe mich um ihren Haushalt gekümmert, aber obwohl es mir bei ihr nicht schlecht ging, hat es mich vor allem an jüdischen Festtagen immer nach Föhrenwald gezogen.
    Dann wurden die letzten Juden nach München umgesiedelt und in Sozialbauten eingewiesen. Ich habe gesehen, wie sie abgeholt wurden und ein paar von ihnen um keinen
Preis gehen wollten. Ich weiß nicht, warum ich nicht weinen konnte, und ich hatte immer noch Fieber.
    Das war 1956.   Inzwischen hatte die Kirche das Lagergelände erworben und verkaufte die Häuschen, eins für 3000   Mark an katholische Heimatvertriebene. Ich habe eine Familie aus Tachau gefunden und ihr einen kleinen Aufpreis bezahlt. Das war natürlich verboten, aber nun hatte ich ein eigenes Haus und konnte meinen Laden eröffnen – als Jüdin unter lauter Vertriebenen. Obwohl , ich war mir nie ganz sicher, ob ich wirklich die einzige Jüdin war. Manchmal meinte ich einen Blick aufzufangen, der bedeutete: Ich weiß, was du gesehen hast, und ich habe es auch gesehen.
    Dann also tauchte die Naziwitwe in ihrem Pelzmantel auf. Und jetzt verstehst du auch, was ihre Frage für mich bedeutete. Wann sind Sie denn angekommen, Frau Schwarz? Hätte ich wahrheitsgemäß den September 1945 genannt, hätte sie womöglich begriffen, dass ich eine jüdische Überlebende war und keine Vertriebene aus dem
Sudetengau
, wie sie es immer noch nannte.
    Das war meine erste Lüge, und wenn ich ehrlich zu mir bin, war es keine harmlose Lüge. Ich hatte mein Jüdischsein verleugnet. Und ich sollte es noch oft verleugnen.
    Am nächsten Tag war mein Fieber weg. Für immer. Ich merkte es natürlich nicht gleich, es war schon öfter gesunken und wieder gestiegen. Aber einige Wochen später wurde mir klar, dass ich gesund geworden war, weil ich zu lügen begonnen hatte. Das war eine schreckliche Einsicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich dafür hasste, ja, bis heute hasse.
    Schwarz war während des Lesens ganz heiß geworden, fast so, als wäre das rätselhafte Fieber seiner Mutter auf ihn übergesprungen. Er trat ans Fenster und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen.
    Hätte ich ihr aus ihrer Lebenslüge heraushelfen können, dachte er, wenn ich früher davon erfahren hätte? Hätte sie es überhaupt gewollt? Wie hätte unser Leben sich verändert?
    Er kehrte noch einmal zum Sofa zurück, um die letzten Seiten zu lesen. Auf ihnen war eher anekdotenhaft beschrieben, wie aus der Jüdin Hildegard Schwarz nach und nach eine waschechte Egerländerin geworden war.
    Wie ist es möglich, fragte Schwarz sich, dass kein Mensch an ihrer Legende gezweifelt hat? Die Antwort fand er auf der vorletzten Seite.
    Wir Karlsbader Juden hatten ab 1938 kaum noch Kontakt zur übrigen Bevölkerung. Es war also ziemlich unwahrscheinlich, dass mich in Föhrenwald einer der Vertriebenen erkennen würde. Außerdem hatte ich bei meiner Deportation, obwohl ich schon vierzehn war, wie ein kleines Mädchen ausgesehen und bei der Ankunft der Vertriebenen in Föhrenwald wie eine kranke, nicht mehr ganz junge Frau. Trotzdem gab es Schwachpunkte in meiner Geschichte, wie zum Beispiel die Oblaten.
    Nein! Die sind auch erfunden? Das kannst du mir nicht antun, Mama!
    Meine Eltern hatten fünfzehn Jahre lang ein vom internationalen Kurpublikum sehr geschätztes Restaurant mit österreichischer Küche betrieben. Da mein Vater persönlich am Herd gestanden hatte, sah meine Mutter sich nach seinem Tod zur Schließung des Lokals gezwungen. Sie eröffnete in einer engen Seitengasse einen Imbiss, der anfangs recht gut lief. Doch nachdem die Nazis sich das Sudentenland einverleibt hatten, durfte sie nur noch für Juden kochen. Die allerdings waren zum größten Teil vor den Deutschen nach Böhmen und Mähren geflohen. Ende 1939 wurde meine Mutter enteignet und musste sogar ihr
Geschirr und Besteck abliefern. Von da an lebten wir von ihren kümmerlichen Ersparnissen und den milden Gaben unserer christlichen Verwandtschaft.
    Das war die traurige Wirklichkeit, Anton . Kann man es mir verübeln, dass ich mir mit meinen Lügen einen bescheidenen Traum erschaffen habe? Ich habe ja selbst irgendwann an die kleine, aber feine Oblatenbäckerei Schwarz, die Liebhaber in ganz Europa beliefert hat, geglaubt. Ich habe den Geschmack unserer Oblaten auf der Zunge gespürt. Nur deshalb konnte ich ihn dir so genau beschreiben.
    Aber sie hat sich doch am Oblaten-Ofen ihres

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