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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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wahrscheinlich abgelehnt worden.
    Tina Turner brüllte ein bißchen zu laut: »We don’t need another hero.« Das war gut, besonders heldinnenhaft fühlte Hanne sich nicht. Der Fall steckte fest. Der Einspruchsausschuß der Zweiten Instanz hatte die Aufhebung des Haftbefehls gegen Roger gebilligt und Laviks Untersuchungshaft auf eine magere Woche begrenzt. Die erste Freude darüber, daß auch der Ausschuß stichhaltige Gründe dafür sah, Lavik für einen Schurken zu halten, hatte sich nach wenigen Stunden gelegt. Der Pessimismus hatte rasch sein fieses Grinsen gezeigt, und sehr schnell waren alle von Unlust und Ekel überwältigt worden. So gesehen, war es schön, einen Tag wegzukommen. Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde; alle in der Abteilung bissen wild um sich. Die Deadline am Montagvormittag erhob sich vor ihnen allen wie eine Wand, und niemand fühlte sich stark genug, um hinüberzuklettern. Bei der Morgenbesprechung, an der Hanne noch teilgenommen hatte, hatten nur Kaldbakken und Håkon eine gewisse Zuversicht gezeigt. Kaldbakken hatte das sicher ehrlich gemeint. Dieser Mann ergab sich immer erst nach dem Abpfiff. Håkons schwacher Optimismus war mehr eine schauspielerische Leistung gewesen, nahm sie an. Er hatte rote Augen gehabt und ein fahles Gesicht vor lauter Schlafmangel, und offenbar hatte er abgenommen. Letzteres stand ihm.
    Insgesamt vierzehn Ermittler arbeiteten an dem Fall. Fünf davon stammten aus der Rauschgiftabteilung. Und wenn sie hundert gewesen wären, die Uhr würde doch unerbittlich dem Montag entgegenticken – dem unbarmherzigen Termin, den die drei Greise von der Zweiten Instanz ihnen aufgezwungen hatten. Der Bescheid war brutal gewesen. Wenn die Polizei nicht mehr liefern konnte, als sie bisher gebracht hatte, dann würde Lavik wieder ein freier Mann sein. Technische Untersuchungen, Obduktionsberichte, Listen von Auslandsreisen, ein abgenutzter Winterstiefel, unbegreifliche Codelisten, Analysen von Frøstrups Rauschgift … Alles türmte sich im Bereitschaftszimmer auf wie Fetzen einer Wirklichkeit, die sie nur zu gut kannten, die sie jedoch nicht so zusammensetzen konnten, daß sie andere überzeugte. Eine Schriftanalyse der schicksalhaften Todesdrohung gegen van der Kerch hatte auch keine eindeutige Antwort erbracht. Sie hatten sie nur mit einigen Notizen aus Laviks Büro und einem Zettel vergleichen können, auf den er genau dieselbe Mitteilung hatte schreiben müssen. Bleich und scheinbar verständnislos hatte der Anwalt ohne Widerspruch die Probe geliefert. Der Graphologe war sich nicht sicher gewesen. Er glaubte, hier und da Ähnlichkeiten zu finden, konnte aber nichts mit Sicherheit sagen. Gleichzeitig hatte er betont, daß nicht ausgeschlossen sei, daß Lavik die kurze Nachricht mit dem beängstigenden Inhalt geschrieben hatte. Er konnte schließlich aus purer Vorsicht seine Schrift verstellt haben. Ein Häkchen oben am T und eine fesche Schlinge am U konnten darauf hinweisen. Aber Beweis? Kein Stück.
    Sie bog bei Sandefjord von der Europastraße ab. Der kleine Ferienort sah im Novembernebel nicht sehr verlockend aus. Die Stadt schien zu schlafen, und nur ab und zu fröstelte irgendein herbstlich gekleideter und abgehärteter Mensch im Wind, der fast waagerecht Regen vom Meer herübertrug. Der Wind wehte so heftig, daß sie mehrmals das Steuer extra hart anpacken mußte; er zerrte am Wagen und drohte ihn in den Straßengraben zu schleudern.
    Nach fünfzehn Minuten auf einer kurvenreichen, Übelkeit erregenden Landstraße sah sie die kleine Flagge. Wie eine halsstarrige Huldigung ans Vaterland peitschte sie hitzig gegen einen Baumstamm, dem diese Prügel nichts auszumachen schienen. Was für eine Art, einen Waldweg zu markieren! Aus irgendeinem Grunde kam es Hanne wie eine Schändung vor, die Nationalflagge den Naturgewalten zu überlassen, deshalb hielt sie an und holte die Flagge ins Warme.
    Es war kein Problem, die Hütte zu finden. Hinter den Fenstern brannte einladendes Licht, als warmer Kontrast zu den mürrischen, winterfest verschlossenen Nachbarhütten.
    Sie erkannte Karen fast nicht wieder. Karen Borg trug einen uralten Trainingsanzug. Hanne Wilhelmsen mußte lächeln. Der Anzug war blau, und seine weiße Schulterpartie lief auf der Brust spitz zusammen. Als Kind hatte Hanne auch so einen gehabt. Er hatte als Spielkleidung, Trainingsanzug und Schlafanzug gedient, bis er sich in seine Bestandteile aufgelöst hatte und es unmöglich gewesen war, einen

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