Blinde Goettin
Alles, was er sich in der Kantine gegönnt hatte, waren ein Liter Milch und eine Tasse Kaffee. Die Stullen wurden im Affenzahn verputzt.
»Wie Meister Galenus sagt: Wer essen will und langsam ans Werk geht, geht klug ans Werk.«
Billy T. hörte für einen Moment auf zu kauen und starrte sie verwundert an.
»Koran«, erklärte Hanne.
»Puh, der Koran …« Er aß eifrig weiter.
Hanne hatte keine Zeit zum Frühstücken gehabt und sich erst recht keine Brote schmieren können. Der Rest eines trockenen Stücks Weißbrot mit Krabben lag vor ihr auf einem Teller. Die Krabben drängten sich nicht gerade auf, hatte Billy T. festgestellt und zu dem kargen Brot hinübergenickt. Die Mayonnaise war alt. Der ärgste Hunger war trotzdem besiegt.
»Kokain dagegen kommt in der Regel aus Südamerika. Herrgott, da unten leben doch ganze Regimes davon, daß unsere Gesellschaft bei allzu vielen ein Bedürfnis nach Drogen erzeugt. Sogar hierzulande wird jedes Jahr für viele Milliarden Stoff umgesetzt. Glauben wir. Bei siebentausend Abhängigen, die pro Tag für zweitausend Eier Koks brauchen, kommst du auf eine Riesensumme. Natürlich wissen wir nicht genau, wie hoch sie ist. Aber das große Geld? Ist doch klar. Wenn es nicht verboten wäre, würde ich sicher auch anfangen. Sofort.«
Sie bezweifelte das nicht, sie war über Billy T.s drückende Alimentenlast im Bilde. Andererseits war eine Erscheinung wie er bei einer Zollkontrolle doch zu auffällig. Sie würde ihn jedenfalls als ersten anhalten.
Langsam füllte sich die Kantine. Die Mittagszeit rückte näher. Als andere sich zu ihnen setzen wollten, hielt Hanne die Zeit für reif, sich wieder an die Arbeit zu machen. Vorher mußte Billy T. allerdings auf Ehre und Gewissen versprechen, nach dem fehlenden Stiefel zu suchen.
»Wir halten alle Ausschau«, grinste er. »Ich habe allen Einheiten, die im Einsatz sind, ein Bild des beschlagnahmten Teils gegeben. Die große Stiefeljagd ist schon im Gang!« Er grinste noch breiter und deutete mit zwei Fingern an seinem blanken Schädel den Pfadfindergruß an.
Hanne lächelte. Der Typ war wirklich ein witziger Polizist.
Das Zimmer war garantiert wanzenfrei. Natürlich. Es lag am Ende eines Flurs im zweiten Stock der Platous gate 16. Das Haus wirkte absolut langweilig und anonym, ein Eindruck, der sich bei den wenigen, die hier Zutritt hatten, bestätigte. Das Haus war seit 1965 Hauptquartier des Nachrichtendienstes. Es war klein und eng, erfüllte aber seinen Zweck. Es war diskret. Das Büro war auch nicht groß. Abgesehen von einem quadratischen Resopaltisch in der Mitte und acht Stahlrohrstühlen war es leer. In einer Ecke stand ein Telefon auf dem Boden. Die Wände waren nackt und schmutziggelb und warfen den drei Männern am Tisch großzügig ihr Echo zurück.
»Seht ihr irgendeine Möglichkeit, den Fall zu übernehmen?«
Der Frager, ein hellblonder Mann von Mitte Vierzig, war hier angestellt. Das galt auch für den Schwarzhaarigen in Jeans und Pullover. Der dritte, älter als die beiden anderen und in grauem Flanellanzug, gehörte zum Überwachungsdienst. Er stützte beide Ellbogen auf den Tisch und tippte rhythmisch die Fingerspitzen gegeneinander.
»Zu spät«, sagte er kurz. »Vor einem Monat wäre es vielleicht noch gegangen. Ehe der Fall die ganz großen Dimensionen annahm. Jetzt ist es einwandfrei zu spät. Es würde unerträgliches Aufsehen erregen.«
»Können wir denn überhaupt etwas machen?«
»Kaum. Solange wir den vollen Umfang der Sache nicht kennen, kann ich euch nur empfehlen, euch an Peter Strup zu halten, unseren Freund zu überwachen und ansonsten zu versuchen, allen anderen zuvorzukommen. Wie? Fragt mich nicht.«
Mehr gab es nicht zu sagen. Die Stuhlbeine kratzten laut über den Boden, als die drei Männer sich gleichzeitig erhoben. Ehe sie zur Tür gingen, schüttelten sie einander düster die Hände, als ob sie gerade eine Beerdigung überstanden hätten.
»Das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut. Ich bete zu Gott, daß ihr euch irrt. Viel Glück.«
Zehn Minuten später befand er sich wieder im unsichtbaren obersten Stock des Polizeigebäudes. Der Chef hörte ihm eine halbe Stunde lang zu. Dann sah er seinen erfahrenen Mitarbeiter über eine Minute lang schweigend an.
»O verflucht«, sagte er schließlich. Mit Nachdruck.
Die Polizeipräsidentin fühlte sich von der Hartnäckigkeit des Staatssekretärs ein wenig provoziert. Andererseits: Vielleicht benutzte er den Fall nur als Vorwand zur
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