Blinde Goettin
werden. Zum erstenmal, seit an einem nassen Septemberabend am Akerselv eine übel zugerichtete Leiche gefunden worden war, fühlte Hanne sich entspannt. Es war halb zwölf, und der Fall war schon seit zwei Stunden ein vergessener, bleicher Spuk. Vielleicht hatte der Alkohol diese barmherzige Wirkung. Nach fast zwei Monaten totaler Abstinenz waren fünf Glas Rotwein genug, damit ihr angenehm schwindelig wurde und sie verführerisch und charmant auftrat. Cecilies heftiges Gefüßel weckte in ihr den Wunsch, das Fest für beendet zu erklären. Aber das hätte wahrscheinlich nichts genützt. Außerdem fühlte sie sich wohl. Und dann klingelte das Telefon.
»Für dich, Hanne«, brüllte Cecilie vom Flur her.
Hanne stolperte über ihre eigenen Füße, als sie vom Tisch aufstand, sie kicherte. Nun wollte sie mal in Erfahrung bringen, wer die Frechheit besaß, an einem Samstagabend um Mitternacht anzurufen. Sie schloß die Wohnzimmertür hinter sich und war nüchtern genug, den resignierten Gesichtsausdruck ihrer Lebensgefährtin zu registrieren. Cecilie legte die linke Hand über die Sprechmuschel.
»Ein Kollege von dir. Und ich werde stocksauer, wenn du jetzt abhaust.« Voller Vorschußvorwürfe überließ sie Hanne das Telefon.
»Ja, verdammt, wir haben den Kerl, Hanne!«
Es war Billy T. Sie rieb sich die Nasenwurzel, in der Hoffnung, davon einen klaren Kopf zu bekommen, aber es brachte nicht viel. »Welchen Kerl? Wen habt ihr?«
»Den Stiefelmann natürlich. Volltreffer! Scheißangst hat der, zum Platzen bereit wie eine überreife Tomate. Kommt mir jedenfalls so vor.«
Das konnte doch nicht wahr sein. Sie wollte es nicht glauben. Der Fall war doch nicht nur im Klo gelandet, er war schon längst unterwegs in die Kloaken. Und jetzt das. Vielleicht der Durchbruch. Eine lebendige, gefangene, in den Fall verwickelte Person. Einer, der etwas Handfestes zu erzählen hatte. Einer, den sie an den Eiern packen konnten. Einer, der Lavik in den Dreck stoßen konnte, mit dem die Polizei seit Tagen zu kämpfen hatte. Ein Denunziant. Genau das, was sie brauchten.
Sie schüttelte den Kopf und fragte, ob er sie holen könne. Fahren könne sie jetzt nicht mehr.
»Ich bin in fünf Minuten bei dir.«
»Mach lieber eine Viertelstunde daraus. Ich muß vorher noch schnell duschen.«
Vierzehn Minuten später gab sie ihren Gästen den Abschiedskuß und befahl ihnen, bis zu ihrer Rückkehr weiterzumachen. Cecilie brachte sie an die Wohnungstür. Hanne versuchte, ihr eine Abschiedsumarmung aufzuzwingen, aber Cecilie wich aus. »Ab und zu hasse ich deinen Job«, sagte sie ernst. »Nicht oft, aber ab und zu.«
»Und wer hat Nacht für Nacht mutterseelenallein in einem gottverlassenen Nest am Nordfjord gesessen, als du da oben Dienst hattest? Wer hat fünfzehn Tonnen Geduld mit deinen Spät- und Nachtdiensten im Krankenhaus gehabt?«
»Du«, antwortete Cecilie widerwillig, aber mit einem versöhnlichen Lächeln. Und dann ließ sie sich doch umarmen.
»Der ist sauber wie ein frischgewaschenes Baby. Nicht mal eine blöde Geschwindigkeitsübertretung.« Der schmutzige Finger tanzte auf dem Blatt auf und ab, das auch das Vorstrafenregister des Ministerpräsidenten hätte enthalten können. Nichts. »Um so mehr«, Billy T. grinste übers ganze Gesicht, »um so mehr muß er uns eine verdammt gute Erklärung dafür liefern, daß er die beiden Polizisten auf der Straße mit einer Schußwaffe bedroht hat und jetzt wie verdorbener Wackelpudding zittert.«
Sehr gut. Die Reaktionen bei einer Festnahme konnten verräterisch sein. Die Unschuldigen bekamen es zwar mit der Angst zu tun, aber es war immer eine Angst, mit der man umgehen konnte, eine Angst, die sich mit der Versicherung dämpfen ließ, daß sich alles sehr bald klären werde, falls es sich um ein Mißverständnis handele. Es dauerte nie länger als eine Viertelstunde, Unschuldige zu beruhigen. Aber Billy T. zufolge war dieser Mann schon seit Stunden außer sich vor Angst.
Es hatte keinen Sinn, noch in dieser Nacht mit dem Verhör anzufangen. Sie selbst war nicht nüchtern, und dem Häftling schien das Warten gutzutun. Der Adjutant hatte ihn wegen Bedrohung der Polizei festgesetzt, und das war mehr als genug, um ihn bis Montag hierzubehalten.
»Wie hast du ihn gefunden?«
»Ich war es nicht, das waren Leif und Ole. So ein Glück! Du würdest es nicht für möglich halten.«
»Stell mich doch mal auf die Probe!«
»Also, wir haben einen bestimmten Typen schon lange im Auge,
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