Blinde Goettin
neuen aufzutreiben. An den Füßen trug Karen Borg ausgelatschte Wollpantoffeln. An beiden Hacken klafften Löcher. Ihre Haare waren ungekämmt, und sie hatte sich nicht geschminkt. Die gepflegte, hübsche Anwältin hatte sich versteckt, und Hanne ertappte sich dabei, wie sie im Zimmer nach ihr Ausschau hielt.
»Entschuldige meinen Aufzug.« Karen lächelte. »Aber es gehört zu der Freiheit, hier zu sein, daß ich so aussehen kann.«
Hanne bekam Kaffee angeboten, lehnte aber dankend ab.
»Vielleicht ein Glas Saft, bitte.« Sie plauderten eine halbe Stunde. Danach durfte die Kommissarin die Hütte besichtigen und ihre aufrichtige Bewunderung zum Ausdruck bringen. Sie selbst hatte nie eine Hütte gehabt, ihre Eltern waren in den Ferien lieber ins Ausland gefahren. Die anderen Kinder aus der Straße hatten sie beneidet, aber sie hätte lieber zwei Monate bei einer Großmutter auf dem Lande verbracht. Doch sie hatte nur eine Großmutter, eine alkoholisierte, gescheiterte Schauspielerin, die in Kopenhagen wohnte.
Schließlich setzten sie sich an den Küchentisch. Hanne hob ihre Reiseschreibmaschine aus dem grauen Kasten und machte sich fürs Verhör bereit. Es dauerte vier Stunden. Auf drei Seiten äußerte die Anwältin sich zum Gemütszustand ihres Mandanten, seiner Beziehung zu ihr, seiner Anwältin, und ihrer Deutung der wirklichen Wünsche des Jungen. Darauf folgte eine fünf Seiten lange Aussage, die im Grunde dieselbe war wie beim letztenmal. Jeder Bogen wurde am Rand sorgfältig unterschrieben, auf der letzten Seite dann auch noch unten.
Inzwischen war es Nachmittag, und Hanne schaute auf die Uhr, ehe sie zögernd eine Einladung zum Essen annahm. Sie hatte einen Bärenhunger und überschlug schnell, daß es möglich war, hier zu essen und trotzdem vor acht wieder in der Stadt zu sein. Das Essen war nicht besonders raffiniert. Rentierfrikadellen in brauner Soße mit Kartoffeln und Gurkensalat. Der Gurkensalat paßt überhaupt nicht dazu, dachte Hanne; aber immerhin wurde sie satt.
Karen zog einen riesigen gelben Regenmantel und hohe grüne Gummistiefel an, um Hanne zum Auto zu bringen. Sie redeten noch eine Weile über die Landschaft, ehe Karen Borg die Besucherin impulsiv umarmte und ihr gute Fahrt wünschte. Hanne lächelte und wünschte der Anwältin im Gegenzug weiterhin schöne Ferien.
Sie ließ das Auto an, schaltete die Heizung ein, drehte Bruce Springsteen auf, volles Rohr, und schaukelte über die elende Straße. Karen Borg winkte hinterher. Im Spiegel sah Hanne die knallgelbe Gestalt immer kleiner werden, ehe sie hinter einer scharfen Kurve verschwand. Das da, dachte sie mit breitem Lächeln, das da ist Håkon Sands große Liebe.
Sie konnte das gut verstehen.
SAMSTAG, 28. NOVEMBER
»Kennt ihr den Witz von dem Kerl, der in den Puff kommt und kein Geld bei sich hat? Und der daraufhin nach oben zur alten Olga geschickt wird?«
»Jahhhh!« stöhnten die anderen, und der Scherzkeks ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen und trank vergrätzt seinen letzten Rotwein. Das war die vierte Zote, mit der er sein Glück versucht hatte. Mit minimalem Erfolg. Die Stille hielt nicht lange vor. Er goß sein Glas wieder voll, plusterte sich auf und machte noch einen Versuch.
»Wißt ihr, was Frauen sagen, wenn sie einen schönen großen …«
»Jahhh!« riefen die fünf anderen im Chor, und der Witzeerzähler hielt wieder die Klappe.
Hanne beugte sich über den Tisch und küßte ihn auf die Wange. »Kannst du nicht mit diesen Geschichten aufhören, Gunnar? Die sind einfach nicht mehr witzig, wenn man sie schon mehrmals gehört hat.«
Sie lächelte und fuhr dem Mann über die Haare. Sie kannten einander seit dreizehn Jahren. Er war lammfromm, ein kompletter Blödian und der fürsorglichste Mann, den sie kannte. Wenn er mit anderen Bekannten von Hanne und Cecilie zusammen war, erwies er sich als der totale Reinfall. Trotzdem gehörte er dazu, seine Gastgeberinnen liebten ihn und zählten ihn fast schon zum Inventar. Wenn sie einen guten, treuen Hausfreund hatten, dann ihn. Seine Wohnung lag neben ihrer und sah entsetzlich aus. Er hatte keinen Geschmack, nahm es mit dem Haushalt nicht so genau und ließ sich lieber bei seinen Nachbarinnen in einen tiefen Sessel fallen, als einen Abend in seinem verdreckten Nest zu verbringen. Mindestens zweimal die Woche war er bei ihnen, und zu allen Festen war er natürlich eingeladen.
Trotz des ermüdenden Gunnars mit seinen Zoten schien es ein großartiger Abend zu
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