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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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fallen lassen. Er sah sie zum erstenmal an diesem Tag an. »Ich hatte seit Monaten keinen Job mehr gemacht. Rechnete jeden Moment mit einer Anfrage. Ich habe mir Telefon legen lassen, damit ich nicht auf das Gemeinschaftstelefon angewiesen bin. Ich nehme immer erst ab, wenn es viermal geklingelt hat. Wenn es zweimal klingelt, dann eine Pause macht, dann noch mal zweimal klingelt und aufhört, weiß ich, daß ich am nächsten Mittag um zwei erwartet werde. Cleveres System. Von meinem Telefon aus ist kein einziges Gespräch zwischen uns gespeichert, und trotzdem kann er mich erreichen. Also, ich bin dann letzten Dienstag hingegangen. Aber diesmal war nicht die Rede von Drogen. Ein Mann im System war zu frech geworden. Wollte von den großen Jungs Geld erpressen. Oder so. Viel habe ich nicht erfahren, nur, daß er eine Bedrohung für uns alle darstellte. Ich hatte schreckliche Angst.« Han van der Kerch grinste selbstironisch. »In den zwei Jahren, die ich das mache, habe ich nie ernsthaft an die Möglichkeit gedacht, erwischt zu werden. Irgendwie habe ich mich unverletzlich gefühlt. Verdammt, ich bin in Panik geraten, als mir aufging, daß alles in den Teich gehen könnte. Daß irgendwer im System eine Bedrohung darstellen könnte, ist mir einfach nie eingefallen. Eigentlich habe ich den Auftrag aus Angst vorm Auffliegen angenommen. Zweihundert Riesen sollte ich kriegen. Verdammte Versuchung. Es ging nicht nur um seinen Tod. Die ganze Szene sollte einen Schreckschuß verpaßt bekommen. Deshalb hab’ ich sein Gesicht zermatscht.« Wieder brach der Junge in Tränen aus, diesmal jedoch weniger heftig. Er konnte reden, während seine Tränen strömten. Ab und zu legte er Pausen ein, atmete schwer, rauchte, überlegte. »Aber als ich es getan hatte, bin ich total ausgerastet. Ich habe es sofort bereut und bin einen Tag lang durch die Stadt geirrt. Viel weiß ich davon nicht mehr.«
    Sie hatte den Jungen kein einziges Mal unterbrochen. Und sie hatte sich keine Notizen gemacht. Aber nun drängten sich zwei Fragen auf.
    »Warum wolltest du mich?« fragte sie leise. »Und warum willst du nicht ins Gefängnis?«
    Han van der Kerch musterte sie eine Ewigkeit lang. »Du hast die Leiche gefunden, obwohl sie gut versteckt war.«
    »Ja, ich hatte meinen Hund bei mir. Wieso?«
    »Ich weiß zwar nur wenig über den Rest der Organisation, aber man schnappt ja immer mal was auf. Einen Versprecher, eine Andeutung. Ich glaube, ja, ich glaube, ich weiß es nicht, daß irgendein Anwalt die Hand im Spiel hat. Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich kann mich auf niemanden verlassen. Aber es sollte einige Zeit dauern, bis die Leiche gefunden wurde. Je mehr Zeit, desto kälter die Spur. Du mußt ihn schon eine Stunde später gefunden haben. Du konntest also nichts damit zu tun haben.«
    »Und das Gefängnis?«
    »Ich weiß, daß die Gruppe dort Kontakte hat. Häftlinge, glaube ich, aber es kann sich auch um Angestellte handeln. Sicherer ist es hier, bei unserem Freund und Helfer. Auch wenn es verdammt heiß ist.«
    Er wirkte erleichtert. Karen Borg dagegen war niedergeschlagen, als sei die Last, die den Jungen eine Woche lang gequält hatte, jetzt auf ihre Schultern geladen worden. Er fragte, was sie nun unternehmen werde. Sie antwortete ehrlich: Sie wisse es noch nicht genau. Sie müsse überlegen.
    »Aber du hast versprochen, dieses Gespräch für dich zu behalten«, erinnerte er sie.
    Karen Borg gab keine Antwort, sondern malte sich mit dem Zeigefinger ein unsichtbares Kreuz vor den Hals. Sie klingelte nach einem Polizisten, und der Niederländer wurde in seine schreckliche mattgelbe Zelle zurückgeführt.
     
    Obwohl es Freitagabend nach sechs Uhr war, saß Håkon Sand noch in seinem Büro. Karen Borg stellte fest, daß sein müdes Aussehen, das sie am Montag einem anstrengenden Wochenende zugeschrieben hatte, offenbar dauerhaft war. Sie wunderte sich darüber, daß er so spät noch arbeitete, wußte sie doch, daß Überstunden bei der Polizei nicht bezahlt wurden.
    »Es ist übel, soviel zu schuften«, gab er zu. »Aber noch schlimmer ist es, wenn du nachts aufwachst und an all das denken mußt, was du nicht geschafft hast. Ich versuche freitags immer so ziemlich alles zu erledigen. Dann wird das Wochenende angenehmer.«
    Es war still in dem großen grauen Haus. Die beiden saßen dort in einem Zustand wunderlicher Zusammengehörigkeit. Ein Martinshorn zerriß plötzlich die Stille, im Hinterhof wurde ein Streifenwagen ausprobiert. Es

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