Blinde Goettin
verstummte so plötzlich, wie es eingesetzt hatte.
»Hat er etwas gesagt?«
Sie hatte diese Frage erwartet, gewußt, daß sie kommen mußte, aber nach einigen Minuten der Entspannung fühlte sie sich trotzdem unvorbereitet. »Nicht sehr viel.«
Sie merkte, wie schwer es ihr fiel, ihn zu belügen. Sie spürte, daß ihr Nacken rot anlief, und hoffte, daß ihr Gesicht davon verschont bleiben würde. Er durchschaute sie.
»Anwaltliche Schweigepflicht«, grinste er, hob die Arme und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sie sah die Schweißringe unter seinen Armen, fand sie aber nicht abstoßend. Eher natürlich, nach einem Arbeitstag von zehn Stunden.
»Das respektiere ich«, fuhr er fort. »Ich selbst darf ja auch nicht viel sagen.«
»Ich dachte, eine Verteidigerin hätte Anspruch auf Information und Unterlagen«, wandte sie ein.
»Nicht, wenn wir glauben, daß die Ermittlungen darunter leiden.« Er grinste noch breiter, so als ob ihre beruflichen Widersprüche ihn amüsierten. Er stand auf und holte zwei Tassen Kaffee. Der schmeckte noch schlimmer als am Montag, so als hätte dieselbe Kanne die ganze Zeit vor sich hingeköchelt.
Karen begnügte sich mit einem Schluck und stellte mit einer Grimasse die Tasse weg. »Das Zeug wird dich noch umbringen«, warnte sie.
Er ignorierte diese Warnung und behauptete, über einen Ledermagen zu verfügen.
Aus unerfindlichen Gründen fühlte sie sich wohl. Zwischen ihnen bestand ein seltsamer und erstaunlicherweise angenehmer Konflikt, den es früher nicht gegeben hatte. Nie zuvor hatte Håkon über ein Wissen verfügt, das ihr fehlte. Sie sah ihn an und bemerkte das Funkeln in seinen Augen. Der graue Schimmer an den Schläfen und der höhere Haaransatz ließen ihn nicht nur älter aussehen, sondern auch spannender, stärker. Im Grunde war er ziemlich hübsch geworden.
»Du bist schön geworden, Håkon«, entfuhr es ihr.
Er errötete nicht einmal, er sah ihr nur direkt in die Augen. Sofort bereute sie; sie hatte eine Lücke in ihrem Panzer geöffnet und wußte doch längst, daß sie sich das nicht leisten konnte, bei niemandem. Blitzschnell wechselte sie das Thema.
»Na, wenn du nichts erzählen kannst und ich auch nicht, dann machen wir doch Feierabend«, schloß sie, erhob sich und zog ihre Regenjacke an.
Er bat sie, wieder Platz zu nehmen. Sie gehorchte, behielt jedoch die Jacke an.
»Ehrlich gesagt, der Fall ist ernster, als ich dachte. Wir arbeiten mit verschiedenen Theorien, aber die sind reichlich vage, und wir können nichts konkret belegen. Ich kann dir nur sagen, daß alles auf Drogenhandel in großem Stil hinweist. Ich überschaue noch nicht, wie tief dein Mandant darin verwickelt ist. Aber durch den Mord steckt er tief genug drin. Wir halten den Mord für vorsätzlich. Wenn ich nicht mehr sagen kann, dann ist das kein böser Wille. Wir wissen einfach nichts, und ich muß, selbst bei einer alten Freundin wie dir mit vagen Behauptungen und Spekulationen sehr vorsichtig sein.«
»Hat es etwas mit Hans A. Olsen zu tun?«
Karen hatte Håkon Sand kalt erwischt. Er starrte sie mit halboffenem Mund an und schwieg fast dreißig Sekunden lang. »Woher, zum Teufel, weißt du das?«
»Ich weiß gar nichts«, antwortete sie. »Aber mich hat heute ein Journalist angerufen. Ein Fredrik Myhre oder so. Er wollte wissen, ob ich diesen ermordeten Anwalt gekannt habe. Mitten in einer Reihe Fragen zu meinem Mandanten. Die Journalisten scheinen ja ziemlich gut über die Arbeit der Polizei informiert zu sein, deshalb wollte ich dich fragen. Aber ich weiß nichts. Müßte ich etwas wissen?«
»Dieser Arsch.« Håkon stand auf. »Wir reden nächste Woche weiter.«
Als sie das Zimmer verlassen wollten, streckte Håkon den Arm aus, um das Licht auszumachen. Diese Bewegung führte seinen Arm über ihre Schulter, und gänzlich ohne Vorwarnung beugte er sich vor und küßte sie. Es war ein vorsichtiger, jungenhafter Kuß. Sie sahen einander einige Sekunden lang an, dann löschte er das Licht, schloß die Tür ab und lotste sie wortlos aus dem großen, fast leeren Haus.
Das Wochenende hatte begonnen.
MONTAG, 5. OKTOBER
Der Journalist Fredrick Myhreng fühlte sich unwohl. Nervös zupfte er an seinen aufgekrempelten Ärmeln herum, dann machte er sich an einem Kugelschreiber zu schaffen. Der fiel plötzlich auseinander, und die Farbe schmierte seine Hände blau. Er hielt Ausschau nach etwas, womit er sie hätte abwischen können, mußte sich aber mit dem steifen Papier seines
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