Blinde Goettin
seine Finger über die Wand gegenüber wandern. Er kam sich idiotisch vor, er hatte keine Ahnung, wie sich ein Geheimversteck anfühlte. Dennoch machten sie schweigend weiter, bis sie das ganze Zimmer ausgiebig befingert hatten. Ohne ein anderes Ergebnis als sechzehn verdreckte Fingerspitzen.
»Was ist mit dem Nächstliegenden?« fragte Håkon und öffnete die Schranktüren des geschmacklosen Bücherregals.
Im ersten Fach fanden sie nichts. Die verstaubten Bretter verrieten, daß es schon lange leerstand. Das nächste war vollgestopft mit Pornofilmen, sorgfältig nach Sparten geordnet. Hanne Wilhelmsen zog eine Schachtel heraus und öffnete sie. Sie enthielt genau das, was die busenstarken Verheißungen des Etiketts versprachen. Sie legte den Film zurück und griff nach dem nächsten.
»Alle neune!«
Ein Zettelchen war auf den Boden gefallen. Sie hob es auf, ein sorgfältig zusammengefaltetes A4-Blatt. Oben stand in Handschrift »Flügel«. Darunter standen Zahlen, in Dreiergruppen mit Bindestrichen: 2-17-4, 2-19-3, 7-29-32, 9-14-3. So ging es über das ganze Blatt weiter. Lange starrten sie den Zettel an.
»Das ist sicher ein Code«, sagte Håkon Sand und bereute das sofort.
»Ach, meinst du wirklich?« Hanne Wilhelmsen lächelte, faltete das Blatt sorgfältig zusammen und steckte es in eine Plastiktüte mit Druckverschluß. »Dann müssen wir eben versuchen, ihn zu knacken«, sagte sie nachdrücklich und steckte die Tüte in ihre Aktentasche.
Der Anwalt Peter Strup war ein rastloser Mensch. Er hatte ein Tempo, das bei einem Mann seines Alters bei den Ärzten sämtliche Warnlampen in hektische Tätigkeit versetzt hätte, wäre er nicht von so beeindruckender physischer Konstitution gewesen. Dreißig Wochen im Jahr stand er vor Gericht. Außerdem nahm er an Aktionen, Fernsehprogrammen und Podiumsdiskussionen teil. In den letzten fünf Jahren hatte er drei Bücher veröffentlicht, zwei über seine vielen Heldentaten im Gerichtssaal und eine Biographie. Sie hatten sich recht gut verkauft, schließlich waren alle drei rechtzeitig vor Weihnachten erschienen.
Er war mit dem Fahrstuhl unterwegs zu Karen Borgs Kanzlei. Sein Anzug war geschmackvoll, dunkler rotbrauner Wollflanell. Seine Socken paßten zu einem Streifen im Schlips. Er betrachtete sich in dem riesigen Spiegel, der eine Wand des Fahrstuhls bedeckte, fuhr sich mit der Hand durch die Haare, rückte seinen Kragen zurecht und ärgerte sich über die Andeutung eines braunen Streifens am Kragenrand.
Als sich die mit Holz beschlagenen Metalltüren öffneten und er den ersten Fuß in den Gang setzte, kam eine junge Frau durch eine der großen Glastüren, deren weiße Beschriftung ihm verriet, daß er in der richtigen Etage war. Die Frau war blond, mittelhübsch und trug ein Kostüm aus fast dem gleichen Stoff und in fast der gleichen Farbe wie sein Anzug. Als sie ihn sah, blieb sie überrascht stehen.
»Peter Strup?«
»Mrs. Borg, I presume«, sagte er und streckte eine Hand aus, die sie nach kurzem Zögern ergriff.
»Wolltest du gerade gehen?« fragte er überflüssigerweise.
»Ja, aber ich muß nur kurz etwas holen, dann können wir zu mir gehen«, antwortete Karen Borg und blieb stehen. »Du wolltest doch zu mir?«
Er sagte ja, und zusammen gingen sie in ihr Büro.
»Ich komme wegen deines Mandanten«, sagte er, nachdem er sich in einen der tiefen Sessel an dem kleinen Glastisch gesetzt hatte.
»Ich würde ihn wirklich gern übernehmen. Hast du ihm das gesagt?«
»Ja. Er will nicht. Er will mich. Möchtest du eine Tasse Kaffee?«
»Nein, ich will dich nicht lange aufhalten«, wehrte Peter Strup ab. »Aber weißt du, warum er auf dir besteht?«
»Nein, eigentlich nicht«, log sie, erstaunt darüber, wie leicht es war, diesen Mann zu belügen. »Vielleicht möchte er einfach lieber eine Frau.«
Sie lächelte. Er lachte ein kurzes, charmantes Lachen.
»Das soll keine Beleidigung sein«, beteuerte er. »Aber bei allem Respekt: Hast du überhaupt Ahnung von Strafrecht? Weißt du, was in einem Gerichtssaal abläuft?«
Sie blieb ihm die Antwort schuldig und war äußerst irritiert. Im Laufe der letzten Wochen hatten die Kollegen sich über sie lustig gemacht, Nils hatte sie ausgelacht, und ihre eingebildete Mutter hatte ihr Vorwürfe gemacht, weil sie einen Strafprozeß übernommen hatte. Sie hatte das alles zum Kotzen satt. Und Peter Strup sollte bezahlen. Sie schlug mit beiden Händen auf ihren Schreibtisch.
»Ehrlich gesagt, ich habe genug
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