Blinde Goettin
davon, daß andere mich auf meine Inkompetenz hinweisen. Ich habe acht Jahre Anwaltserfahrung – nach einem glänzenden Examen. Und um bei deiner Formulierung zu bleiben: Bei allem Respekt, aber wie schwer ist es eigentlich, einen Mann zu verteidigen, der den Mord schon gestanden hat? Geht das nicht fast wie von selbst, mit schönen Worten über sein hartes Leben, wenn das Strafmaß festgesetzt wird?«
Sie protzte sonst nicht gern, und wütend wurde sie auch so gut wie nie. Trotzdem war es ein gutes Gefühl. Sie sah, daß Anwalt Strup in Verlegenheit geriet.
»Aber natürlich, sicher schaffst du das«, sagte er beruhigend wie ein wohlwollender Prüfer. »Ich wollte dich nicht verletzen.« Auf dem Weg zur Tür drehte er sich lächelnd noch einmal um und fügte hinzu: »Aber mein Angebot steht weiterhin.«
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wählte Karen Borg die Nummer des Polizeigebäudes. Schließlich meldete sich eine vergrätzte Frau in der Telefonzentrale, und sie bat darum, mit Adjutant Sand verbunden zu werden.
»Hier ist Karen.«
Er schwieg, und für den Bruchteil einer Sekunde spürte sie die seltsame Spannung, die vor dem Wochenende zwischen ihnen entstanden war und die sie schon fast vergessen hatte. Vielleicht, weil sie das wollte.
»Was weißt du über Peter Strup?«
Diese Frage zerriß die Spannung, und sie hörte sein Erstaunen, als er antwortete.
»Peter Strup? Einer von Norwegens tüchtigsten Verteidigern, vielleicht der tüchtigste überhaupt; er macht das schon seit Ewigkeiten und ist eigentlich verdammt sympathisch. Fähig, berühmt und ohne einen Kratzer im Lack. Seit fünfundzwanzig Jahren mit derselben Frau verheiratet, drei erfolgreiche Kinder und eine bescheidene Villa in Nordstrand. Letzteres weiß ich aus der Regenbogenpresse. Was ist mit ihm?«
Karen Borg erzählte ihre Geschichte. Sie blieb nüchtern, fügte nichts hinzu und ließ nichts weg. Schließlich sagte sie:
»Hier stimmt irgendwas nicht. Ihm fehlt es doch unmöglich an Aufträgen. Und daß er sich in mein Büro bemüht hat! Er hätte doch noch einmal anrufen können!«
Sie wirkte fast beleidigt. Håkon Sand war in Gedanken versunken und schwieg.
»Huhu!«
Er riß sich zusammen.
»Ja, ich bin noch da. Nein, ich kapier’ das nicht, aber sicher wollte er nur mal vorbeischauen. Vielleicht hatte er in der Nähe zu tun.«
»Ja, vielleicht, aber wieso hatte er dann keine Aktentasche oder so was bei sich?«
Håkon fand das auch seltsam, sagte aber nichts. Rein gar nichts. Aber er dachte so wild nach, daß es kein Wunder gewesen wäre, wenn Karen das gehört hätte.
MITTWOCH, 7. OKTOBER
»Das ist ein Buchcode. So viel steht immerhin fest.« Der alte Herr war sich seiner Sache sicher. Er saß zusammen mit Hanne Wilhelmsen und Håkon Sand in der Kantine im sechsten Stock. Er war ein schöner Mann, schlank und für seine Generation überraschend groß. Sein Haar war dünner als früher, aber noch immer bildete es eine imponierende grauweiße Mähne, nach hinten gekämmt und frisch geschnitten. Er hatte ein markantes Gesicht mit gerader nordeuropäischer Nase, auf deren Spitze elegant seine Brille für Weitsichtige balancierte. Er war gut angezogen, trug einen dunkelroten Pullover und eine klassische blaue Hose. Sein Hände, die das Papier hielten, waren ruhig. Am rechten Ringfinger saß wie festgewachsen ein schmaler Trauring.
Gustav Løvstrand war ein pensionierter Polizist. Nach einigen Jahren im Nachrichtendienst, während des Krieges und der ersten Zeit danach, hatte er auf eine publikumsorientiertere Karriere bei der Polizei gesetzt. Er war ein grundsolider Mann, von den Kollegen gemocht und respektiert. Später war er zum Überwachungsdienst versetzt worden, wo er als Sonderberater seine Karriere abgeschlossen hatte. Ihm war die große Freude und Befriedigung zuteil geworden, seine drei Kinder in polizeiverwandten Berufen zu sehen. Gustav Løvstrand liebte seine Frau und seine Rosen, mochte sein Rentnerdasein und half allen, die glaubten, er könne noch nützlich sein.
»Das ist klar, es ist ein Buchcode. Schaut mal«, sagte er und legte den Bogen auf den Tisch. Er zeigte auf die Zahlenkolonnen: 2-17-4, 2-19-3, 7-29-32, 9-14-3, 12-2-29, 13-11-29, 16-11-2. »Schrecklich banal«, fügte er lächelnd hinzu.
Die beiden konnten ihm nicht ganz folgen. Hanne traute sich zu fragen: »Was ist ein Buchcode, und warum ist es so klar, daß das hier einer ist?«
Løvstrand sah sie kurz an, dann zeigte er auf die
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