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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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und sie konnten nur noch zwanzig bis dreißig Meter weit sehen. Innerhalb dieses Radius war alles menschenleer.
    »Also, hör mir jetzt zu«, fauchte er. »Wir haben immer gewußt, daß die Sache riskant ist. Einige wenige Operationen sind einfach nötig, um zu verhindern, daß ein allzu offensichtlicher Zusammenhang zwischen Drogenvorräten und Morden besteht. Wir werden aussteigen, solange das Spiel noch läuft. Aber die Voraussetzung dafür ist, daß du einen klaren Kopf behältst und in den nächsten zwei, drei Monaten keinen Fauxpas begehst. Du hast hier schließlich die Kontakte. Aber wir haben ein kleines Problem, das uns über den Kopf wachsen kann«, fuhr er fort. »Han van der Kerch. Wieviel weiß der?«
    »Im Grunde nichts. Er kennt Roger in Sagene. Darüber hinaus dürfte er nicht sonderlich viel wissen. Andererseits ist er schon seit einigen Jahren im System und hat sicher irgendwas aufgeschnappt. Von mir kann er unmöglich etwas wissen. Ich war nicht so unvorstellbar blöd wie Hansa, der einen von den Laufburschen eingeweiht hat. Ich habe mich an Codes und schriftliche Nachrichten gehalten.«
    »Aber er kann ein Problem werden«, sagte der Ältere. »Dein Problem.« Er schwieg vielsagend, ohne seinen jüngeren Kollegen aus den Augen zu lassen. Seine Haltung wirkte bedrohlich, ein Fuß stand auf dem Baumstamm, der andere gleich neben den Füßen des Jüngeren. »Und außerdem darfst du eins nicht vergessen. Außer dir weiß niemand von mir, jetzt, da Hansa das Handtuch geworfen hat. Keiner von den Jungs weiter unten im System weiß von meiner Existenz. Nur du. Das macht dich ziemlich verletzlich, mein Freund.«
    Das war eine unumwundene Drohung. Der Jüngere stand auf, und sein Gesicht war nur Zentimeter von dem des anderen entfernt. »Danke gleichfalls«, sagte er kalt.

SONNTAG, 11. OKTOBER
    Hanne Wilhelmsen hatte dasselbe Verhältnis zur Polizei wie ein Fischer zum Meer, so stellte sie es sich in ihren romantischeren Momenten vor. Sie war unauflöslich mit der Polizei verbunden und konnte sich keine andere Beschäftigung vorstellen. Als sie sich mit zwanzig Jahren für die Polizeischule entschied, hatte sie gründlich mit den schweren akademischen Traditionen ihrer Familie gebrochen. Es war ein Aufruhr gegen ihre professoralen Eltern, gegen ihren gutbürgerlichen Hintergrund überhaupt gewesen. Die Entscheidung war bei ihrer Familie auf ohrenbetäubendes Schweigen getroffen, nur ihre Mutter hatte sich bei einem Sonntagsessen zweimal nervös geräuspert. Aber die Familie hatte einigermaßen Haltung bewahrt. Jetzt war Hanne eine Art Original für alle; diejenige, die bei den Weihnachtsfesten die unterhaltsamsten Anekdoten erzählen konnte. Sie war das wirklichkeitsnahe Alibi der Familie und liebte ihre Arbeit.
    Gleichzeitig machte sie ihr angst. Sie merkte inzwischen, wie die Seele darauf reagierte, jeden Tag mit Morden, Vergewaltigungen, Mißhandlungen und Gewalt konfrontiert zu werden. Das alles klebte an ihr wie ein nasses Laken. Obwohl sie immer duschte, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, glaubte sie ab und zu, nach Tod zu riechen, sowie die Hände eines Fischers immer nach Fischabfällen stinken. Und so, wie sie sich vorstellte, daß der Fischer ständig nach Anzeichen für Fang Ausschau hält, ließ Hanne Wilhelmsen ihr Unterbewußtsein ständig an allen ihren Fällen gleichzeitig arbeiten. Es gab keine Information, die nicht zu etwas führen konnte. Die Gefahr lag in der ewigen Überarbeitung. Oslos Kriminalität entwickelte sich schneller, als der Polizei per Haushaltsplan Geld zugeführt wurde.
    Sie versuchte, nie mehr als zehn Fälle gleichzeitig zu bearbeiten, eine Grenze, die gar zu oft überschritten wurde. Die unterschiedlich dicken grünen Ordner lagen jetzt als bedrohlich hoher Stapel auf der einen Seite ihres Schreibtischs. Selbst in den extrem hektischen Wochen, die hinter ihr lagen, hatte sie sich in unregelmäßigen Abständen immer wieder Zeit genommen, um möglichst viele Fälle mit dem kleinen A5-Zettel mit der Aufschrift »Zur Einstellung empfohlen« versehen zu können. Mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit und in der heiligen Überzeugung von der Schuld des Verdächtigten ließ sie sich dann entsetzlich schuldbewußt von einem Juristen den notwendigen Stempel verpassen: Code 058, »Eingestellt wegen Mangels an Beweisen«.
    So kam wieder ein Verbrecher ungestraft davon, und sie hatte einen Fall weniger, der ihre Zeit fraß; und sie konnte nur hoffen, daß sie in der Regel

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