Blinde Goettin
richtig entschied. Noch schuldbewußter fühlte sie sich, weil die Juristen ihr nie widersprachen. Sie verließen sich auf sie, blätterten nur pflichtschuldig in den Unterlagen und folgten dann ausnahmslos ihren Empfehlungen. Hanne Wilhelmsen wußte, daß die grünen Ordner auch für die Juristen einen Albtraum darstellten.
Es war Sonntag, und vor ihr lagen einundzwanzig Ordner. Sie hatte sie nach Strafmaßen sortiert. Angesichts der Fülle fühlte sie sich wie gelähmt, aber schließlich könnte sie sich doch aufraffen. Keine Akte sah nach Archiv aus. Aber im Stapel für Paragraph 228/229, Körperverletzung, lagen elf Fälle. Vielleicht konnte sie für einige davon Bußgelder vorschlagen, eine einfache und legitime Methode, Fälle aus der Welt zu schaffen.
Drei Stunden später hatte sie das in sieben Fällen getan, bei denen es sich um mehr oder weniger ernste Handgreiflichkeiten zwischen betrunkenen Restaurantgästen und brutalen Türstehern handelte. Zwei Fälle ließen sich mit äußerstem Wohlwollen als ausermittelt charakterisieren, auch wenn weitere Zeugenaussagen von Vorteil gewesen wären. Sie ging davon aus, daß die Richter in der Lage waren, einen Verbrecher zu erkennen, und schlug Anklage vor.
Sonntags war gutes Arbeiten. Keine Anrufe, keine Besprechungen, und nur wenige Kollegen im Haus, mit denen man ein paar selbstzufriedene Worte wechselte, in der gegenseitigen Bewunderung dafür, daß man seinen freien Tag mit Arbeit füllte, ohne Bezahlung und ohne anderen Dank als den eigenen, weil nun der Montag nicht gar so schlimm ausfallen würde.
Hanne Wilhelmsen hörte Stimmen aus dem Hinterhof und schaute aus dem Fenster. Sie sah eine ansehnliche Menge von Pressefotografen, und ihr fiel ein, daß der Justizminister zu Besuch war. »Warum am Sonntag?« hatte der Abteilungsleiter bei der Ankündigung dieser Visite gefragt. Als Antwort war ihm nur empfohlen worden, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Hanne Wilhelmsen hatte den Verdacht, daß die Montagszeitungen viel Platz für die Berichterstattung hatten, jetzt, da Norwegen von Sonntagszeitungen überflutet wurde. Die Montagszeitungen waren seither dünner, und es war leichter geworden, darin zu erscheinen. Der Besuch des Justizministers war die Folge von wiederholten Artikeln über die schlimmen Arrestbedingungen; gleichzeitig wollte er die Gelegenheit nutzen und sich mit der Polizeipräsidentin über den bedrohlichen Anstieg von Oslos Straßenkriminalität unterhalten, jener Form von Kriminalität, die die Zeitungen gern als »blinde Gewalt« bezeichneten, was im Grunde falsch war, wenn man sich die Unterlagen ansah. Aber das taten die Journalisten in der Regel nicht. Deshalb begriffen sie auch nicht, daß nicht ein Mangel an Provokationen das Problem war, sondern die Tatsache, daß auf Provokationen jetzt mit Messern und Fäusten geantwortet wurde, und nicht mit Pöbeleien wie in alten Zeiten.
Jetzt hatte sie nur noch zwölf unerledigte Fälle. Sie näherte sich ihrem Ziel, und ihre Laune besserte sich. Sie nahm sich den dicksten Ordner vor. Sie war der Antwort, warum Ludvig Sandersen so abrupt in die angeblich bessere nächste Welt hatte übersiedeln müssen, noch nicht sehr viel näher gekommen. Hanne Wilhelmsen hoffte für Ludvig Sandersen, daß sie sich irrte, wenn sie die andere Welt nicht für besser hielt; daß er jetzt in weißem Gewande auf einer Wolke saß und sich nach Herzenslust mit dem weißen Pulver amüsieren konnte, das sein Leben auf Erden so verdorben hatte.
Der Fall war noch nicht mit dem Mord an Anwalt Olsen zusammengeschlagen worden. Sie hatte am Freitag mit Håkon Sand darüber gesprochen; sie hatte das Gefühl, hinreichend Gründe für eine offizielle Verbindung zu haben. Er hatte widersprochen. »Wir warten noch ein bißchen«, hatte er entschieden. Aber sie fand, es war an der Zeit, sich beide Fälle gleichzeitig anzusehen. Sie legte die Ordner beiseite und nahm die Füße vom Tisch. Ihre Stiefel knallten auf den Boden, und sie wühlte in ihrer Tasche nach den Schlüsseln, die auch die anderen Büros ihrer Abteilung öffneten. Der Fall lag bei Heidi Rørvik, zwei Türen weiter.
Auf dem Flur war niemand zu sehen, als Hanne Wilhelmsen ihr Büro verließ. Es war so still, wie sich das für Sonntag nachmittag gehörte. Als sie Rørviks Tür aufschließen wollte, glaubte sie Schritte zu hören. Sie fuhr herum, aber zu spät. Der Schlag, geführt mit einem Gegenstand, den sie auch nicht erkannt hatte, traf sie
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