Blinde Goettin
anderen vor. Der Sandersen-Fall ist klar. Die technischen Beweise reichen für die Verurteilung. Such nicht nach Gespenstern, wo es keine gibt. Das kannst du übrigens als Befehl auffassen.«
»Strenggenommen ist doch wohl der Staatsanwalt in einer Ermittlungsfrage mein Vorgesetzter«, parierte er.
Als Antwort wurde er entlassen.
Als er aufstand, fragte er: »Warum hat sie eigentlich die Augen verbunden?« Er nickte zur Göttin der Gerechtigkeit hinüber, die auf der riesigen Tischplatte stand und nur zwei Telefone zur Gesellschaft hatte.
»Sie soll sich von keiner Seite beeinflussen lassen. Sie soll blinde Gerechtigkeit üben«, belehrte die Polizeipräsidentin ihn.
»Aber mit verbundenen Augen kann sie doch nichts sehen«, sagte Håkon Sand, ohne eine Reaktion zu provozieren. Der König, der neben seiner Gemahlin in einem Goldrahmen über der Schulter der Polizeipräsidentin hing, schien ihm dagegen zuzustimmen. Håkon beschloß, das unergründliche Lächeln Seiner Majestät als Antwort zu betrachten, und verließ das Büro im sechsten Stock. Er war gereizter als bei seinem Eintreffen.
Hanne Wilhelmsen freute sich, als sie ihn sah. Selbst mit dem Verband über dem Auge und einer rasierten Kopfhälfte war sie überwältigend schön. Die Blässe ließ ihre Augen größer wirken, und zum erstenmal, seit er von dem Überfall gehört hatte, wurde ihm klar, wie sehr er sich um sie gesorgt hatte. Er traute sich nicht, sie zu umarmen. Vielleicht hielt der Verband ihn davon ab, aber bei genauerem Nachdenken ging ihm auf, daß es auch sonst nicht natürlich gewesen wäre. Hanne hatte über das berufliche Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte, hinaus nie zu Nähe eingeladen. Aber offenbar freute sie sich über seinen Besuch. Er wußte nicht so recht, wohin mit seinem Blumenstrauß, und nach einigen verwirrten Sekunden legte er ihn auf den Boden. Der Nachttisch war bereits überfüllt. Er zog einen Stahlrohrstuhl an die Bettkante.
»Mir geht’s gut«, sagte Hanne, noch ehe er fragen konnte.
»Ich komm’ so schnell wie möglich zurück. Und auf jeden Fall ist das hier der endgültige Beweis dafür, daß wir einer großen Sache auf der Spur sind.«
Der Galgenhumor paßte nicht zu ihr, und er sah, daß es ihr weh tat, als sie zu lächeln versuchte.
»Komm erst dann zurück, wenn du wieder richtig gesund bist. Das ist ein Befehl.«
Er versuchte ein Lächeln, nahm sich aber zusammen. Das würde sie nur verleiten, es ihm gleichzutun, trotz ihrer Schmerzen. Ihre ganze Kieferpartie färbte sich langsam blaugelb.
»Die Originalpapiere sind aus deinem Büro verschwunden. Haben wir von irgendwas keine Kopie?«
Das war eher eine hoffnungsvolle Feststellung als eine Frage, aber Hanne mußte ihn enttäuschen.
»Ja«, antwortete sie leise. »Ich hatte eine Notiz geschrieben, einfach so zum Privatgebrauch. Ich weiß ja, was darin stand, ein Verlust ist es also nicht. Aber es ist ein Scheiß, daß andere das jetzt lesen können.«
Håkon Sand merkte, daß ihm heiß wurde, und er wußte, daß seine Wangen jeden Moment unkleidsam rot anlaufen würden.
»Ich habe die unangenehme Befürchtung, daß Karen Borg für den Mann, der mich überfallen hat, ziemlich interessant ist. Wir haben ja schon darüber gesprochen, daß sie wahrscheinlich mehr weiß, als sie uns sagt. Ich habe darüber ein paar Überlegungen angestellt. Und ich habe einiges über die Verbindung zwischen den beiden Fällen notiert.« Sie sah ihn mit einer Grimasse an und faßte sich vorsichtig an den Kopf.
»Nicht sehr gut, was?«
Håkon Sand stimmte zu. Das war überhaupt nicht gut.
Fredrick Myhreng war ziemlich anspruchsvoll. Andererseits hatte er recht, wenn er behauptete, seinen Teil der Abmachung eingehalten zu haben. Jetzt saß er da wie ein eifriger Schulbube und notierte alles, was Håkon Sand ihm erzählen konnte. Der Gedanke, als erster die Nachricht bringen zu können, daß die Polizei es hier nicht mit zwei zufälligen Fällen in der langen – und dauernd wachsenden – Kette von mehr oder minder motivierten Morden zu tun hatte, sondern mit einem Doppelmord, dessen Fäden in den Rauschgifthandel und vielleicht auch in die organisierte Kriminalität hineinreichten – dieser Gedanke sorgte dafür, daß ihm der Schweiß ausbrach und seine fesche Brille trotz der praktischen Sportbügel immer wieder von seiner Nase zu rutschen drohte. Die Tinte spritzte nur so, als er schrieb. Håkon Sand überlegte sich, daß der Junge Ölzeug tragen müßte,
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