Blinde Goettin
Er kam mir sehr niedergeschlagen vor. Er sprach von Selbstmord, konnte das Leben nicht mehr ertragen, die Schmerzen, die Demütigungen – und dann auch noch die neue Geschichte. Ich habe versucht, ihm ein bißchen Mut zu machen, habe ihn getröstet und gebeten durchzuhalten. Aber ich muß zugeben, daß sein Tod für mich nicht unerwartet kam.«
Anwalt Lavik schüttelte langsam und mitfühlend den Kopf. Er wischte sich nicht vorhandene Schuppen von den Schultern; seine Haare waren dicht und glänzten, und die Kopfhaut sah gesünder aus als die, mit der Håkon Sand prunken konnte. Der Adjutant fühlte sich getroffen, musterte seine eigene schwarze Jacke und fegte rasch die weißen Flocken weg, die sich auf dieser Unterlage peinlich scharf abzeichneten. Der Anwalt bedachte ihn mit einem mitfühlenden und unendlich herablassenden Lächeln.
»Hat er gesagt, warum er im Besitz so großer Mengen Drogen war?«
»Ehrlich gesagt«, tadelte Lavik. »Er ist zwar tot, aber ich finde es trotzdem höchst unnatürlich, hier zu sitzen und der Polizei zu erzählen, was er mir anvertraut hat.«
Hanne und Håkon nahmen das schweigend zur Kenntnis.
Hanne Wilhelmsen sammelte sich, ehe sie ihre letzte Karte ausspielte. Sie fuhr sich mit dem Finger über ihre rasierte Schläfe, eine Unsitte, die sie sich in den letzten Tagen zugelegt hatte. Es war so still im Zimmer, daß sie sich einbildete, die anderen könnten das kratzende Geräusch ihrer Finger hören.
»Warum hast du dich in der Nacht zum letzten Samstag um drei Uhr in Grünerløkka mit einem Mann getroffen?«
Ihre Stimme klang scharf, als ob sie sich Mühe gäbe, sich dramatischer anzuhören, als die Lage eigentlich war. Er war darauf vorbereitet.
»Ach, das war ein Mandant. Hat ziemlichen Ärger und brauchte sofort Hilfe. Die Polizei ist noch nicht im Spiel, aber er hat Angst davor. Er brauchte einfach meinen Rat.« Lavik lächelte beruhigend. Es schien nicht ungewöhnlich für ihn zu sein, daß er mitten in der Nacht aus dem Bett stieg, um in den weniger bemittelten Stadtvierteln Besprechungen mit Mandanten abzuhalten. Alltäglich fast, sagte sein Gesichtsausdruck. Allnächtlich.
Hanne beugte sich zu ihm vor und trommelte mit den Fingern der linken Hand auf der Tischplatte. »Und das soll ich dir glauben«, sagte sie leise. »Das soll ich dir glauben.«
»Für mich spielt es keine Rolle, was du glaubst«, sagte Lavik und lächelte erneut. »Entscheidend ist, daß ich die Wahrheit sage. Wenn du anderer Meinung bist, kannst du ja versuchen, das zu beweisen.«
»Genau das werde ich«, antwortete Hanne Wilhelmsen. »Du kannst gehen. Für heute.«
Anwalt Lavik zog seinen Mantel wieder an, verabschiedete sich freundlich und schloß vorsichtig und höflich die Tür hinter sich.
»Du hast ja sehr viel gesagt«, blaffte Hanne ihren Kollegen an. »Sehr ergiebig, dich hier zu haben.«
Ihre Kopfschmerzen hatten sie reizbarer gemacht. Håkon hörte nicht hin. Ihre Wut hing mit Laviks ausgezeichneten Abwehrmaßnahmen beim Verhör zusammen. Sie war enttäuscht. Das wußte Håkon, und deshalb lächelte er nur.
»Besser zu wenig sagen als zu viel«, verteidigte er sich. »Außerdem wissen wir jetzt eins: Der Stiefelbesitzer muß nach der Episode von Freitagnacht mit Lavik gesprochen haben. Er war auf deine Frage vorbereitet. Warum hast du übrigens den Zettel nicht erwähnt?«
»Das wollte ich mir aufsparen«, sagte sie nachdenklich. »Ich geh’ nach Hause und leg’ mich hin. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Sie wissen nichts!«
Er war ausgesprochen zufrieden und selbst bei der Stimmverzerrung des Telefons konnte der Ältere Laviks Begeisterung hören. Er hatte sich um seinen jüngeren Kollegen Sorgen gemacht, der Mann hatte bei ihrem letzten Treffen in Maridalen ausgesehen wie am Rande des Zusammenbruchs. Eine Konfrontation mit der Polizei konnte katastrophale Folgen haben. Aber Lavik war sich ganz sicher. Die Polizei wußte nichts. Eine geschorene Kommissarin und ein dummer Kommilitone hatten hilflos gewirkt; sie hatten kein Trumpf-As. Natürlich war die Episode von Freitagnacht ein bißchen unglücklich, aber seine Erklärung hatte sie überzeugt, da war er sich sicher. Lavik war richtig glücklich.
»Ich schwöre dir, daß sie nichts wissen«, wiederholte er.
»Und jetzt, wo Frøstrup tot, van der Kerch verrückt und die Polizei ohne Anhaltspunkt ist, haben wir ja wohl Ruhe!«
»Du hast einen Faktor vergessen«, sagte der andere. »Du hast Karen Borg vergessen. Wir wissen
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