Blinde Goettin
nichts in der Welt her. Er hat um meine Hilfe gebeten. Das Gericht hat mich ernannt. Ich werde ihm helfen. Vollständig unabhängig von irgendwelchen Drohungen, ob sie nun von Schurken oder von Staranwälten stammen!«
Obwohl sie leise gesprochen hatte, hatte ihr Auftritt eine gewisse Aufmerksamkeit erregt. Die wenigen Gäste im anderen Teil des Lokals verstummten und blickten sie beide voller Interesse an.
Sie dämpfte ihre Stimme noch weiter und flüsterte geradezu: »Tausend Dank für die Einladung. Es hat sehr gut geschmeckt. Ich rechne damit, nichts mehr von dir zu hören. Sollte ich noch ein Wort von dir über diesen Fall hören, werde ich mich bei der Anwaltskammer beklagen.«
»Da hin ich nicht Mitglied«, lächelte er und wischte sich mit einer großen weißen Serviette über den Mund.
Karen Borg stampfte in die Garderobe, warf ihren Mantel über und brauchte für den Heimweg eine Minute und fünfundvierzig Sekunden. Sie war außer sich vor Wut.
Die Nacht befand sich noch in der Pubertät, als sie aufwachte. Die digitalen Ziffern des Radioweckers warfen ihr den Zeitpunkt hitzig rot an den Kopf: 02.11. Nils atmete langsam und regelmäßig und stieß bei jedem vierten Atemzug ein leises Schnarchen aus. Sie versuchte, sich diesem Rhythmus anzupassen, sich an die Ruhe des großen, schlafenden Menschen neben ihr anzuhängen, wie er zu atmen, ihrer kurzatmigen Lunge dasselbe Tempo aufzuzwingen. Die Lunge protestierte, indem sie ihr einen Schwindelanfall verpaßte, aber Karen wußte aus Erfahrung, daß nach dem Schwindel in der Regel der Schlaf von seinem nächtlichen Fluchtversuch heimkehrte.
Heute nacht jedoch nicht. Ihr Herz weigerte sich ganz einfach, das Tempo zu drosseln, und ihre Lunge schrie in wildem Protest gegen eine andere Geschwindigkeit. Was hatte sie geträumt? Sie wußte es nicht mehr, aber das Gefühl von Trauer, Hilflosigkeit und undefinierbarer Angst war so stark, daß es ein schlimmer Traum gewesen sein mußte.
Vorsichtig drehte sie sich zum Bettrand und tastete mit der Hand nach dem Stecker des Telefonanschlusses auf dem Nachttisch. Sie zog ihn heraus, behutsam und ohne Nils zu wecken, das hatte sie in unzähligen Nächten trainiert. Dann stieg sie aus dem Bett und schlich sich aus dem Schlafzimmer. Bei der Tür blieb sie stehen und griff nach ihrem Bademantel.
Nur ein Lämpchen über dem Telefontisch machte es ihr möglich, auf dem Flur etwas zu sehen. Leise nahm Karen das schnurlose Telefon aus der Halterung. Danach ging sie in den Raum, den sie beide Arbeitszimmer nannten und der hinter dem Wohnzimmer lag. Hier brannte Licht; auf der riesigen Tischplatte aus dickem Kiefernholz, die schräg auf zwei viereckigen Säulen ruhte, lag psychologische Fachliteratur ausgebreitet. Vom Boden bis zur Decke umgaben Bücherregale das gesamte Zimmer. Aber sie reichten nicht aus, an mehreren Stellen türmten sich meterhohe Bücherstapel auf dem Boden. Das Zimmer war das gemütlichste in der Wohnung, in einer Ecke stand ein Sessel mit Fußbank, daneben eine Leselampe. Karen setzte sich.
Sie wußte seine Nummer auswendig, obwohl sie sie in ihrem Leben erst einmal gewählt hatte, vor etwas über zwei Wochen. Sie wußte auch seine Nummer aus der Studentenzeit noch; sie hatte sie sechs Jahre lang mindestens einmal täglich gewählt. Aus irgendeinem Grunde wirkte es wie ein schlimmerer Verrat, ihn anzurufen, während Nils im Nebenzimmer schlief, als sich auf dem Wohnzimmerboden mit ihm zu lieben, während Nils verreist war. Sie starrte das Telefon mehrere Minuten lang an, ehe ihre Finger schließlich fast wie von selbst die richtige Ziffernkombination tippten.
Nach zweieinhalbmal Klingeln hörte sie ein halbersticktes Hallo.
»Hallo, ich bin’s.« Etwas Originelleres fiel ihr nicht ein.
»Karen! Was ist los!« Er wirkte plötzlich hellwach.
»Ich kann nicht schlafen.«
Ein Rascheln und Knistern wies darauf hin, daß er sich im Bett aufsetzte.
»Ich hätte dich aber trotzdem nicht anrufen dürfen«, bat sie um Entschuldigung.
»Ach, das ist schon in Ordnung. Ehrlich gesagt, ich freue mich natürlich über deinen Anruf. Das ist doch klar. Du mußt mich immer anrufen, wenn du das Bedürfnis hast. Egal wann. Wo bist du?«
»Zu Hause.«
Stille.
»Nils schläft«, erklärte sie, um seiner Frage zuvorzukommen. »Ich hab’ den Telefonstecker im Schlafzimmer rausgezogen. Außerdem schläft er um diese Zeit immer wie ein Stein. Er ist daran gewöhnt, daß ich aufwache und ein bißchen herumwandere.
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