Blinde Goettin
hineingestochen. Das war nett von ihnen. Aber warum hatten sie ihm den Gürtel nicht wieder abgenommen? Das mußte ein Versehen sein. Also nahm er ihn ab und schob ihn nachts unter seine Matratze. Mehrmals wurde er wach und sah nach, ob er noch da war. Das träumte er nicht.
Der Gürtel wurde zu einem kleinen Schatz. Über einen Tag lang war der Niederländer glücklich über den geheimen Gürtel. Das war etwas, von dem die anderen nichts wußten, etwas, das er hatte und doch nicht haben durfte. Zweimal während dieses Tages, gleich nach dem Kontrollblick des Wärters durchs Türfenster, hatte er ihn rasch umgeschnallt, hatte ein paar Laschen übersprungen, weil er es eilig hatte, und war mit gut sitzender Hose und einem breiten Lächeln durch die Zelle gelaufen. Aber nur ein paar Minuten lang, dann hatte er den Gürtel abgenommen und unter der Matratze verstaut.
Er versuchte, in seinen Illustrierten zu blättern. Er fühlte sich obenauf. Trotzdem konnte er sich nicht konzentrieren, er dachte nur an seinen Plan. Aber zuerst mußte er einen Brief schreiben. Dafür brauchte er nicht lange. Vielleicht würde sie sich freuen? Sie war nett und hatte gute Hände. Die beiden letzten Male hatte er sich schlafend gestellt. Es war so schön, wenn sie seinen Rücken streichelte. Es tat gut, angefaßt zu werden.
Der Brief war fertig. Er schob seinen Hocker vom Schreibtisch zu dem kleinen Fenster, das hoch oben in der Mauer saß. Wenn er sich streckte, konnte er den Gürtel am Gitter befestigen. Er machte einen Knoten und hoffte, daß es halten würde. Vorher hatte er das eine Ende durch die Gürtelschnalle geschoben und eine Schlinge gebildet. Eine schöne feste Schlinge, die er leicht über den Kopf streifen konnte.
Sein letzter Gedanke galt seiner Mutter in Holland. Für den Bruchteil einer Sekunde bereute er, aber es war zu spät. Der Hocker bewegte sich schon unter ihm, und der Gürtel spannte sich blitzschnell. Fünf Sekunden lang konnte er feststellen, daß er nicht das Genick gebrochen hatte. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen, und das Blut, das durch seine Adern vom Hals in den Kopf strömte, wurde vom Gürtel am Rückweg zum Herzen gehindert. Nach wenigen Minuten quoll die Zunge aus seinem Mund, blau und groß, und seine Augen erinnerten an die eines Fisches auf dem Trockenen. Han van der Kerch war tot, er war nur dreiundzwanzig Jahre alt geworden.
FREITAG, 13. NOVEMBER
Billy T. hatte von einer Wohnung gesprochen. Diese Bezeichnung war unverdient. Das Mietshaus hatte sicher die absolut mieseste Lage in Oslo. Es stand eingequetscht zwischen Mossevei und Ekebergvei, gebaut war es irgendwann um 1890, lange bevor sich irgend jemand das Verkehrsungeheuer hatte vorstellen können, das das Haus langsam zerkauen sollte. Es hatte das Haus irgendwann als ungenießbar ausgespuckt, und so stand es immer noch da, in einem Zustand, der nur für die Reservespieler der Gesellschaft, die ansonsten in einem Container im Hafen gelandet wären, akzeptabel war.
Es roch muffig und widerlich. Gleich hinter der Haustür stand ein Eimer mit den Resten alter Kotze und etwas anderem, das undefinierbar, aber vermutlich organisch war. Hanne Wilhelmsen befahl den stupsnäsigen Rotschopf ans Küchenfenster. Er riß und schob, aber das Fenster ließ sich nicht bewegen. »Das ist seit Jahren nicht mehr geöffnet worden«, stöhnte er, und sie nickte kurz als Antwort. Er betrachtete das als Erlaubnis, seine Versuche einzustellen.
»Pfui Teufel, das sieht ja vielleicht aus«, erklärte er und sah aus, als wolle er aus Angst vor unbekannten und lebensgefährlichen Bazillen keine Bewegung riskieren. Zu jung, dachte Hanne Wilhelmsen, die schon zu viele von diesen Löchern gesehen hatte, die andere als Zuhause bezeichneten. Zwei Plastikhandschuhe flogen durch die Luft.
»Zieh die an«, sagte sie und streifte selbst ein Paar über.
Die Küche lag gleich links neben dem engen Flur. Überall stand verkrustetes Geschirr herum. Zwei schwarze Müllsäcke standen auf dem Boden, und Hanne verschaffte sich mit der Schuhspitze Zugang. Der Müll erfüllte den Raum mit Gestank, und der Rothaarige übergab sich.
»Entschuldigung«, keuchte er. »Tut mir leid.«
Er stürzte an ihr vorbei und aus der Wohnung. Sie lächelte kurz und ging ins Wohnzimmer. Das war kaum größer als fünfzehn Quadratmeter, von denen noch ein provisorisch eingerichteter Schlafalkoven abgeteilt war. Das Zimmer war quadratisch, und ungefähr in der Mitte ragte ein Pfosten vom Boden
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