Blinde Goettin
verschloß er die Tür und hüpfte wie ein kleiner Hund hinter seiner Vorgesetzten her die Treppe hinunter.
DONNERSTAG, 19. NOVEMBER
Niemand konnte behaupten, daß sie dieses Ergebnis erwartet hätten. In Wahrheit hatte außer Hanne Wilhelmsen überhaupt niemand mit einem Ergebnis gerechnet. Håkon Sand hatte am letzten Donnerstag Laviks Tasse mit einem Schulterzucken abgetan. Han van der Kerchs Tod hatte alles überschattet. Es hatte wegen des vergessenen Gürtels ein Höllenspektakel gegeben. Ziemlich unnötig, da der Junge auch Hemd und Hose für seinen Zweck hätte benutzen können. Alle Erfahrung besagte, daß es unmöglich war, Selbstmordkandidaten zurückzuhalten, wenn sie erst einmal entschlossen waren. Und das war Han van der Kerch gewesen.
»Jaaa!« Sie bückte sich mit Hüftschwung vornüber, ballte die Faust und streckte ihren Arm aus. »Jaaa!«
Sie wiederholte diese Bewegung. Die anderen im Bereitschaftsraum sahen sich das alles stumm und leicht verlegen an. Kommissarin Hanne Wilhelmsen knallte vor dem mageren Hauptkommissar ein Papier auf den Tisch. Kaldbakken nahm es ruhig zur Hand, eine demonstrative Mißbilligung ihres unpassenden Gefühlsausbruchs. Er ließ sich Zeit. Als er das Papier wieder hinlegte, war in seinem Pferdegesicht ein Lächeln zu erahnen.
»Das ist erfreulich«, er räusperte sich, »wirklich erfreulich!«
»What an understatement!« Hanne hatte sich größeren Enthusiasmus gewünscht. Die Fingerabdrücke von Anwalt Jørgen Lavik, die sich deutlich auf einer Kaffeetasse aus einer staatlichen Kantine abzeichneten, waren identisch mit einem schönen, vollständigen Abdruck auf einem der Tausender, die sie in einer stinkenden Wohnung im Mossevei unter einem Dielenbrett gefunden hatten, bei einem toten Dealer. Der Bericht der Kripo war eindeutig und unbestreitbar.
»Das ist doch nicht möglich!« Polizeiadjutant Sand schnappte sich den Bericht, der in der Mitte zerriß. Es war möglich.
»Jetzt haben wir den Kerl!« rief der Rothaarige stolzgeschwellt, weil er zur Aufklärung beigetragen hatte. »Jetzt holen wir ihn!«
So einfach war das natürlich nicht. Die Fingerabdrücke bewiesen nichts. Aber sie deuteten stark auf etwas hin. Das Problem war, daß Lavik sicher jede Menge Erklärungen liefern konnte. Seine Beziehung zu Frøstrup war legitim genug gewesen. Alle im Zimmer – wahrscheinlich mit Ausnahme des eifrigen Rothaarigen – sahen das ein. Hanne Wilhelmsen schaltete einen Overheadprojektor ein und nahm sich einen roten und einen blauen Filzstift. Beide leer.
»Hier«, sagte der Rothaarige und warf ihr einen neuen schwarzen Stift zu.
»Fassen wir zusammen, was wir haben«, sagte Hanne und fing an zu schreiben. »Erstens: Han van der Kerchs Erklärung an seine Anwältin.«
»Hat sie erzählt, was der Bursche gesagt hat?« Kaldbakken war aufrichtig überrascht.
»Ja, sieh dir Dok. 11.12 an. Der Niederländer hat einen Brief hinterlassen, eine Art Abschiedsbrief. Einen lieben Gruß an Karen Borg, von ihm aus könne sie reden. Sie war gestern den ganzen Tag hier bei uns. Wir hatten recht. Aber es war wunderbar, eine Bestätigung zu bekommen. Und die haben wir jetzt schriftlich.« Sie drehte sich zur Tafel um und schrieb schweigend weiter.
1. H. v. d. K.s Erklärung (Karen B.)
2. Verb. Lavik-Roger, Autohändler (Tel.-Nr. im Buch)
3. Laviks Fingerabdr. auf Geld bei Frøstrup(!!!)
4. Codezettel bei JE von derselben Art wie der von Hansa Olsen
5. Lavik war an dem Tag hier, als H. v. d. K. durchgedreht ist
6. Lavik war an dem Tag im Gef. als Frøstrup seine Überdosis gesetzt hat.
»Han van der Kerchs Erklärung ist wichtig«, sagte sie und benutzte ein zerbrochenes Lineal als Zeigestock, der gegen Punkt eins auf der Liste hämmerte. »Der einzige und ziemlich trickreiche Nachteil ist, daß wir sie nicht von dem Burschen selbst haben. Info aus zweiter Hand. Andererseits: Karen Borg ist eine superglaubwürdige Zeugin. Sie kann bestätigen, daß Han seit Jahren im Geschäft war. Außerdem hat er seinen Kontakt mit Auto-Roger zugegeben, und er hatte gerüchteweise gehört, daß im Hintergrund Anwälte mitmischen. Gerüchte sind eine ziemlich dünne Haftbegründung, aber daß er solche Probleme bei seiner Verteidigerwahl hatte, zeigt, daß er auf ziemlich handfesten Informationen gesessen hat. Durch Karen Borgs Aussage haben wir jedenfalls Roger im Griff.« Sie tauschte das Lineal gegen den Filzstift und unterstrich wütend Rogers Namen. »Diese Verbindung ist ganz
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