Blinde Goettin
zu haben. Jetzt würde es nur noch blödsinnig aussehen.
»Aber es ist wirklich äußerst bedauerlich …« Er legte eine Kunstpause ein, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Es ist äußerst bedauerlich, daß Anwältin Karen Borg, die, wie ich weiß, über einen guten Ruf verfügt und als tüchtige Juristin gilt, nicht gesehen hat, daß sie sich eines Verstoßes gegen Paragraph 144 Strafgesetzbuch schuldig machte.«
Wieder eine Pause. Der Richter blätterte nach dem genannten Paragraphen, während Håkon wie gelähmt dasaß und wartete. »Karen Borg stand unter Schweigepflicht«, fuhr der Verteidiger fort. »Die hat sie gebrochen. Ich entnehme den Unterlagen, daß sie diesen schwerwiegenden Gesetzesbruch mit einer Art Zustimmung ihres toten Mandanten begründet. Aber das kann in keiner Weise ausreichen. Vor allem möchte ich darauf hinweisen, daß dieser Mandant nachweislich psychotisch war und nicht beurteilen konnte, was für ihn am besten war. Als nächstes möchte ich das Gericht auf diesen sogenannten Abschiedsbrief hinweisen, also Dok. 17-1.« Er schwieg und blätterte zur Kopie dieses hilflosen Briefes weiter. »Es ist ziemlich, nein, höchst unklar, ob diese Formulierung überhaupt eine Entbindung von der Schweigepflicht enthalten kann. So, wie ich diesen Brief lese, müssen wir ihn als Abschiedsgruß betrachten, als eine Art pathetische Liebeserklärung an eine Anwältin, die vermutlich freundlich und menschlich gewesen ist.«
»Aber er ist doch tot!« Håkon konnte die Klappe nicht halten, sprang auf und fuchtelte mit den Armen. Er ließ sich wieder fallen, ehe der Richter ihn zur Ordnung rufen konnte. Der Verteidiger lächelte.
»Rettstidende 1983, S. 430«, erklärte er und legte eine Kopie jenes Urteils auf den Richtertisch. »Hier ist auch eine für dich«, sagte er dann und reichte eine Kopie in Håkons Richtung. Der mußte aufstehen und sie sich selbst holen.
»Die Mehrheit vertrat damals die Ansicht, daß die Schweigepflicht keinesfalls mit dem Tode des Mandanten endet«, erklärte er. »Die Minderheit übrigens auch. Daran bestehen keinerlei Zweifel. Und das bringt uns zurück zu diesem Brief.« Er hielt ihn auf Armeslänge von seinen Augen weg und zitierte:
»Du warst lieb zu mir. Du kannst vergessen, was ich übers Klappehalten gesagt habe. Schreib meiner Mutter einen Brief. Danke für alles.« Der Brief wurde zurück in den Ordner gelegt. Hanne wußte nicht, was sie glauben sollte. Håkon hatte Gänsehaut, und er merkte, daß seine Hoden sich wie bei einem eiskalten Bad zusammenzogen, zu einem empfindlichen und wenig männlichen Klumpen.
»Das hier«, fuhr der Verteidiger fort, »ist keine Entbindung von der Schweigepflicht. Anwältin Borg hätte niemals eine Aussage machen dürfen. Wenn sie sich nun schon dieses Vergehens schuldig gemacht hat, ist es zumindest wichtig, daß das Gericht nicht denselben Fehler begeht. Ich weise in diesem Zusammenhang auf Paragraph 119 der Strafprozeßordnung hin und möchte behaupten, daß es diesem Paragraphen widerspricht, wenn wir Borgs Aussage hier beachten.«
Håkon Sand blätterte in dem Sonderdruck, der vor ihm lag. Seine Hände zitterten so heftig, daß er seine Bewegungen kaum koordinieren konnte. Schließlich fand er den Paragraphen. O verdammter Mist! Das Gericht durfte keine Aussagen annehmen, wenn sie auf Informationen beruhten, die ein Anwalt im Dienst gesammelt hatte. Jetzt hatte er wirklich Angst. Er pfiff auf Lavik, auf den Drogendealer und mutmaßlichen Mörder Jørgen Ulf Lavik. Die einzige, an die er dachte, war Karen Borg. Vielleicht bekam sie jetzt ernsthaften Ärger. Und das war allein seine Schuld. Er hatte auf ihrer Aussage bestanden. Sie hatte zwar nicht protestiert, aber sie hätte nichts gesagt, wenn er sie nicht darum gebeten hätte. Alles war seine Schuld.
Auf der anderen Seite des Saals hatte der Verteidiger seine Papiere zusammengesucht. Er trat vor den Richter und stützte sich mit einer Hand auf dessen Tisch. »Und dann, geehrtes Untersuchungsgericht, haben die Anklagebehörden gar nichts. Die Telefonnummern in Roger Strømsjords Notizbuch sind unmöglich von irgendwelcher Bedeutung. Daß der Mann Zahlenspiele schätzt, beweist gar nichts. Es deutet nicht einmal etwas an. Höchstens, daß er ein komischer Vogel ist. Und die Fingerabdrücke auf dem Geldschein? Über die wissen wir wenig. Aber, geehrter Richter, nichts spricht dagegen, daß Anwalt Lavik hier die Wahrheit gesagt hat! Er kann einem Mandanten, der ihm
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