Blinde Voegel
nicht auf Nikolas Gedicht geantwortet, was, wie Beatrice es sah, zwei Ursachen haben konnte. Entweder, sie googelte sich gerade die Finger wund, um Nikolas kryptischen Andeutungen auf die Spur zu kommen. Oder sie hatte sie bereits durchschaut und war schon auf dem Weg zum Treffpunkt.
«Lass uns zu dieser Forellenwegsiedlung fahren», schlug Beatrice vor. «Ich nehme das Notebook mit, dann bleiben wir auf dem Laufenden.»
«Du weißt, wie groß die Siedlung ist, oder?», wandte Florin ein, hob aber gleichzeitig beschwichtigend die Hände. «Ich bin auch dafür zu fahren, aber wir sollten uns darüber klar sein, dass es schon ein riesiger Zufall wäre, wenn wir Nikola oder Tina dort über den Weg laufen. Vor allem, weil wir nicht wissen, wie sie aussehen.»
Das blonde Mädchen mit der Zahnlücke grinste Beatrice aus Nikolas Profilbild entgegen. Es war unmöglich, aus diesem Foto gültige Schlüsse darauf zu ziehen, wie die Frau heute aussah. «Auf die eine oder andere Weise wird Nikola auf sich aufmerksam machen müssen, sonst hat auch Tina keine Chance, sie zu erkennen.»
Florin steckte sein Handy in die Hosentasche und schaltete den Computer ab. «Außer, die beiden kennen sich schon.»
Sie machten sich auf den Weg nach draußen, und wenige Meter vor dem Ausgang geschah, womit Beatrice nicht mehr gerechnet hatte: Kossar kam ihnen entgegen und winkte mit der blauen Mappe. «Sorry! Ich war noch bei einer Dozentenbesprechung, important stuff. Aber hier haben Sie jetzt Ihre Unterlagen, wirklich interessant übrigens. Ich glaube, ich habe einige wertvolle Schlüsse ziehen können. Wollen wir uns zusammensetzen? What about now?»
Kossar war für Beatrice eine ständige Quelle des Erstaunens. Fast bewundernswert, mit welcher Selbstverständlichkeit er davon ausging, dass sie all ihre Pläne sofort verschieben würden, um ihm zu lauschen.
«Wir haben es leider eilig», erklärte Florin. «Später dann. Oder morgen.»
Beatrice griff nach der Mappe und verkniff sich alle Bemerkungen, die ihr auf der Zunge lagen.
Sie waren gerade beim Einsteigen, als Beatrices Handy läutete. Stefan hatte einen Geistesblitz gehabt.
«Hotel, das war doch deine Idee, nicht wahr?», rief er. «Du könntest recht haben, aber wenn du Hitchcock mit einbaust, dann drängt sich ein Motel auf. Bate’s Motel, du weißt doch, aus Psycho.»
«Okay. Was weiter?»
«Nehmen wir an, die Forelle steht für ihre ganze Gattung, dann wäre mein Tipp, dass wir im Motel Fischer nachsehen sollten, das liegt ein bisschen außerhalb von Eugendorf. Soll ich anrufen und fragen, ob eine Dame namens Nikola dort abgestiegen ist?»
Sie überlegte kurz. «Besser wäre es, du würdest gemeinsam mit Bechner hinfahren. Ich könnte mir vorstellen, dass Nikola nicht ihren richtigen Namen angegeben hat, und vielleicht wohnt sie auch gar nicht da, sondern hat das Motel nur als Treffpunkt ausgewählt. Fahrt einfach hin, seht euch um und meldet euch dann, okay?»
«Geht in Ordnung.»
Florin übernahm das Steuer, und noch während sie vom Parkplatz fuhren, schlug Beatrice die Mappe auf und suchte Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit. Es musste einen Grund dafür geben, dass ausgerechnet dieses Posting gelöscht worden war.
Da war es. Sie würde diesmal jede Antwort genau studieren, auf die Möglichkeit einer verborgenen Botschaft zwischen den Zeilen achten, nichts als unwichtig abtun.
Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit.
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,
und alle Wege weltwärts sind verschneit.
Verschneit, ja, das war sie, die Festung, man konnte sogar erkennen, dass zu dem Zeitpunkt, als Pallauf das Foto geschossen hatte, Schnee gefallen war, nur ganz leicht, aber auf den Schultern der dunklen Mäntel und der Mützen der Passanten, die über den Kapitelplatz spazierten, waren weiße Pünktchen auszumachen. Die Einsamkeit, von der das Gedicht erzählte, spiegelte das Foto nicht wider, wie auch eine gewisse Finja Meiner angemerkt hatte. Sie war Beatrice bei ihren Recherchen kaum untergekommen. Eine Gelegenheitsuserin, von deren Sorte es in der Gruppe Hunderte geben musste.
Darüber hängt der Himmel brach und breit.
Es blinkt das Schloß. Und längs den weißen Wänden
hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen …
Die Uhren stehn im Schloß: es starb die –
Beatrice stieß einen Laut aus, der Florin auf die Bremse treten ließ. «Was ist los?»
Sie konnte ihren Blick nicht von dem Foto
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