Blinde Voegel
wenden. Es war wie bei einem Suchrätsel: Man starrte auf ein Bild, bis einem die Tränen kamen, und sah nicht, was darin versteckt lag. Aber wenn man es einmal gefunden hatte, würde einem dieses eine, spezielle Detail bei jedem neuen Betrachten sofort ins Auge springen.
«Dreh um», sagte Beatrice. Etwas schien in ihrem Hals aufzuquellen, sodass ihre Stimme heiser klang. «Oder nein, fahr weiter. Ich weiß noch nicht. Mein Gott. Wir werden mehr Leute brauchen.»
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Kapitel achtzehn
Ich sauge die Hinweise an Tina Herbert in mich auf und ziehe meine Schlüsse. Starte den Wagen. Während der Fahrt lasse ich den Browser offen, denn Nikola gibt mir mehr Spielraum für Interpretation, als mir lieb ist, und ich bin begierig auf weitere Hinweise.
Die Sonne blendet mich, fängt sich in den Schlieren auf der Windschutzscheibe, dort, wo die Scheibenwischer Reste zerquetschter Insekten in einem Halbkreis verteilt haben.
Ein heller Tag, freundlich. Anders als damals, so anders, trotzdem kriecht mir die Kälte den Nacken hoch, als hätte sie die Jahre an einem verborgenen Ort zwischen meinen Schultern überdauert, um jetzt den Bildern, die seit Wochen zu mir zurückdrängen, einen eisigen Empfang zu bereiten. Den Bildern.
Fast Weihnachten. Schnee spritzt unter LKW-Reifen hervor und wird von Panzerketten in parallele Muster gepresst, mehr Schnee fällt in dicken Flocken vom Himmel, als wir das Dorf endlich erreichen. Groß ist es nicht, hat man uns gesagt, aber praktisch nur Kroaten dort und einiges zu holen.
Dragan hat vor einer halben Stunde aufgehört zu wimmern, er schläft jetzt oder ist tot. Neben ihm auf der Ladefläche des Lastwagens sitzt Rajko, die Kalaschnikow auf den Knien, seine Nase läuft, und seine Lippen bewegen sich, formen Gebete oder Flüche, lautlos.
Mir ist kalt. Scheißland.
Das Erste, was links von uns auftaucht, ist ein Rohbau, davor schneit eine Betonmischmaschine langsam zu. Ja, die haben Geld hier, haben sich in Deutschland, Österreich, wo auch immer, ordentlich ins Zeug gelegt, den Schotter gespart und bauen jetzt wie die Idioten.
Es ist erst Nachmittag, aber dunkel wie Hölle. Keiner auf der Straße, kann sein, dass sie wissen, dass wir kommen. Ich stoße Momcilo den Ellenbogen in die Rippen, damit er langsamer fährt. Seine Ungeduld hätte uns neulich schon fast den Arsch gekostet, er begreift nicht, dass es klüger ist, hinter den Panzern zu fahren und nicht vor ihnen her.
Jetzt kommen die ersten Häuserzeilen. Unvorsichtiges Licht hinter Dachfenstern. Zwischen gerüschten Vorhängen ein Weihnachtsstern aus Lichtpunkten. Er explodiert in Grujas erstem Schuss, dem Knall folgt das Weinen eines Kindes, und das ist jedes Mal wie ein Signal, ein Zeichen dafür, dass es losgeht.
Türen bersten, und die Männer brüllen, zerren und prügeln die Menschen aus den Häusern. Zosim, im vorderen Panzer, hält auf die Kirche zu, dort auf dem Platz gibt es Straßenbeleuchtung, die auf rennende Flüchtlinge fällt. Ein paar verschwinden in nahe gelegenen Häusern, die meisten verkriechen sich in der Kirche. Immer derselbe Fehler, immer wieder.
Das Rathaus und die beiden Gebäude daneben in Ruhe lassen, befehle ich Zosim, schieße das Schloss der massiven Holztür auf und schicke Leute ins Gebäude, damit sie ein bisschen aufräumen. Keine Lust auf böse Überraschungen in meinem Quartier.
Keiner aus dem Dorf wehrt sich, bisher. Sie haben es nicht kommen sehen, die dummen Bauern. Jetzt versuchen ein paar von ihnen abzuhauen, aber wir sind zu viele, und wir sind gut. Rajko schießt einem von den bärtigen Alten in den Rücken, als der versucht, durch eine Seitenstraße davonzuhumpeln. Hinter uns brennen die ersten Häuser, und der Wind treibt die Funken in unsere Richtung.
«Endlich wird’s warm», schreit Momcilo und ballert zuerst in die Luft, dann in die Menge, die auf den Kirchenplatz getrieben wird.
Schreie. Weinen. «Fresse halten!», brüllt Rajko und gibt seinen Leuten ein Zeichen. Die reißen ein paar Männer aus der Gruppe, drücken sie auf die Knie und schießen ihnen ins Genick.
Zu früh. Dafür ist auch morgen noch Zeit. Wenn Rajko, Zosim und ihre Kumpel jetzt ihrem Hass auf die Kroaten freien Lauf lassen, dauert das Gemetzel die ganze Nacht. Ist mir zu viel heute. Bin zu müde.
Rajko sieht, dass ich abwinke, kapiert, was ich will, und gehorcht sofort. Es ist anders in diesem Land. Besser. Man wird nicht entlassen, wenn man sich seinem Vorgesetzten
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