Blinde Voegel
Todesmeldung. Die viel zitierte Anonymität des Internets war hier Realität – niemand schien Pallauf so weit gekannt zu haben, dass er die richtigen Schlüsse aus den Headlines der Gazetten zog. Das war gut und gleichzeitig unendlich traurig, denn es zeigte, wie einsam Pallauf tatsächlich gewesen war. Natürlich war es trotzdem nur eine Frage der Zeit. Ein Tag noch, höchstens zwei.
Im Moment kreiste das Interesse der Lyrikfreunde aber um ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal:
Ich lösch das Licht
Mit purpurner Hand,
Streif ab die Welt
Wie ein buntes Gewand.
Und tauch ins Dunkel
Nackt und allein,
Das tiefe Reich
Wird mein, ich sein.
Die Administratorin hatte es eingestellt und schwärmte in mehreren darunter geposteten Kommentaren von der Kürze der Zeilen, die trotzdem oder gerade deswegen so stark und eindrücklich seien.
Helen hieß sie. Helen Crontaler. Der Name war Beatrice vertrauter, als sie es sich selbst erklären konnte. Crontaler … Sie suchte über Google und stieß unmittelbar auf Peter Crontaler, Professor am Institut für Germanistik der Universität Salzburg, Autor zahlreicher Bücher, Literaturkritiker in Presse und Fernsehen.
Na bitte. Ein Link weiter, und sie hatte seinen Lebenslauf auf dem Bildschirm.
Verheiratet mit Helen Crontaler, zwei Töchter, Paula und Xenia.
So weit alles logisch. Die Frau des Germanistikprofessors wilderte im Fachgebiet ihres Mannes und genoss allein dadurch in der von ihr gegründeten Gruppe sicher eine Art Expertenstatus. Und sie hatte eine beachtliche Menge von Gleichgesinnten um sich geschart – fast achthundert.
In den Profilen fanden sich zahlreiche Germanistikstudenten – wie Pallauf. Vielleicht weil sie sich von ihrer Mitgliedschaft Vorteile fürs Studium erwarteten?
Sie suchte weiter. Jemand besonders Originelles hatte Goethes Zauberlehrling in ganzer Länge gepostet, zusammen mit einem dazu passenden Bild aus Phantasia: Mickey Maus im Magieroutfit. Die wenigen Kommentare dazu kreisten um die Frage, wie sinnvoll es sei, den Platz mit Werken zuzumüllen, die ohnehin jeder kannte. Woraufhin Helen Crontaler feststellte, dass man mit Goethe wohl kaum etwas «zumüllen» könne und dass er auch in der hundertsten Wiederholung noch seine Berechtigung habe.
Weiter. Wann hatte Gerald Pallauf sich hier das letzte Mal zu Wort gemeldet? Ah, vor einer knappen Woche. Ein Kommentar zu Brechts Erinnerung an die Marie A . Pallauf schrieb, dass er immer Probleme mit diesem Gedicht gehabt habe, weil das Wort «still» so oft verwendet würde. Das hätte Brecht anders lösen können.
Es kam einiges an Gegenargumenten, alle sachlich. Kein böses Blut, auch nicht in den anderen Diskussionen. Man legte hier offensichtlich Wert auf einen gepflegten Umgangston.
Weitere Kommentare, dann, vor etwa zwei Monaten, hatte Pallauf ein Gedicht von Franz Wedekind eingestellt, als Begleittext zu einem Foto, das einen Seiltänzer zeigte.
Sei er noch so dick,
Einmal reißt der Strick.
Freilich soll das noch nicht heißen,
Dass gleich alle Stricke reißen.
Nein, im Gegenteil,
Mancher Strick bleibt heil.
Hätten wir ihn erhängt vorgefunden und nicht erschossen, müsste ich diesen Zeilen Bedeutung beimessen, dachte Beatrice.
So waren sie kaum mehr als ein Hinweis darauf, dass Pallauf eine Schwäche für Wortwitz gehabt hatte.
Ältere Beiträge anzeigen. Beatrice ging alles durch, immer auch auf der Suche nach Sarah Beckendahl, doch die hatte sich fast nie zu Wort gemeldet, und wenn, dann nur sehr kurz. Finde ich auch toll; gefällt mir nicht so; ich glaube, Nikola hat recht. Niemand ging groß auf ihre Kommentare ein, anders als auf Pallaufs, die von wirklichem Interesse an Lyrik zeugten.
Da. Im vergangenen Februar hatte er ein ernsteres Gedicht gepostet, gemeinsam mit einem Foto der verschneiten Festung Hohensalzburg, aufgenommen vom Kapitelplatz aus. Es war ein guter und stimmungsvoller Schuss, wenn auch ein wenig beeinträchtigt durch die Passanten und Touristen im Vordergrund. Ein violetter Kinderwagen schob sich als dominierender Farbfleck von rechts ins Bild.
Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit , lautete der Titel des Gedichts, das immerhin halb zur Aufnahme passte. Weiß ja, einsam aber nun wirklich nicht.
Ein weißes Schloß in weißer Einsamkeit.
In blanken Sälen schleichen leise Schauer.
Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer,
und alle Wege weltwärts sind verschneit.
Darüber hängt der Himmel brach und breit.
Es blinkt das Schloß. Und längs den
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