Blinde Voegel
leuchtete. Geschmackvoll, nichtssagend, ideal.
Durchsuche deine E-Mail-Adresse nach Freunden , empfahl die Seite ihr als Nächstes. Finde Personen, die du kennst.
Beatrice hatte gewusst, dass dieser Schritt nötig werden würde, und sie hatte das Problem vor sich hergeschoben, bis jetzt. Tina Herbert hatte keine Freunde, das war klar, und Beatrice würde sich hüten, ihre eigenen zur Verfügung zu stellen.
Es war nicht schlimm, wenn man an Tinas Profil sofort ablesen konnte, dass sie neu registriert war – nur durfte es nicht so wirken, als habe sie sich nur der Lyrik-Gruppe wegen angemeldet. Eine völlig verwaiste Freundesliste würde aber genau darauf schließen lassen.
Aus reiner Neugier gab Beatrice Florin Wenninger ins Suchfeld ein. Kein Ergebnis, wie erwartet, sie fand nur einen Maxim Wenninger, Pianist. Das Gesicht auf dem Profilbild ähnelte dem von Florin auf schwer zu definierende Art und Weise. Er hatte irgendwann erwähnt, dass sein Bruder Klavier spielte, aber das Wort Pianist war nicht gefallen.
Weiterstöbern. Drasche war nicht registriert, dafür Ebner. Seine Fotos waren öffentlich zugänglich und wunderschön: geschwungene Hügel im Morgennebel, die Rückenansicht einer halbnackten Frau, ein Körper wie aus Stein gemeißelt. Beatrice musste an die Bilder denken, die er von der toten Sarah Beckendahl geschossen hatte. Kein Wunder, dass er sich in seiner Freizeit nach Schönheit sehnte.
Nein, sie würde Ebner keine Freundschaftsanfrage schicken. Aber sie wühlte ein wenig in seiner offen zugänglichen Freundesliste. Fand einen Erwin Fischer mit 3488 Freunden – die konnte er unmöglich alle persönlich kennen. Vermutlich ein «Sammler», wie Stefan die Facebook-User nannte, die ihre Bedeutsamkeit an der Zahl ihrer virtuellen Freundschaften maßen.
Sie schickte Erwin Fischer eine Anfrage, ebenso an Carina Offermann und Roman Dachs, beide mit über zweitausend Freunden gesegnet. Sie surfte von einem Profil zum nächsten, fand immer wieder Menschen mit absurd vielen Bekanntschaften und klickte auf «FreundIn hinzufügen». Binnen Minuten kamen die ersten drei Zusagen, Tinas Hauptseite füllte sich mit den Statusmeldungen völlig unbekannter Menschen. Ein guter Anfang. Jetzt noch Interessen sammeln, wie es sich für ein ordentliches Facebook-Mitglied gehörte.
Was konnte Tina gefallen, von Gedichten einmal abgesehen? Musik natürlich. Moby, Diana Krall, Maria Callas. Von allem etwas, und alles erstklassig.
Ein paar Filme, einige Bücher, möglichst literarisch. Sie gab an, dass sie Skifahren mochte. Zwei weitere «Freunde» reihten sich auf ihrer Liste ein. Ausgezeichnet.
Zeit für die erste Statusmeldung.
Tina Herbert erkundet die Weiten von facebook.
Und Beatrice Kaspary sucht nach der Gruppe «Lyrik lebt».
Das Icon mit dem aufgeschlagenen Buch. Geschlossene Gruppe. 798 Mitglieder.
Beatrice führte den kleinen Pfeil ihres Mauszeigers sanft über die Schaltfläche «Der Gruppe beitreten». Klick.
Im ersten Moment dachte sie, das wäre bereits alles gewesen, denn die Seite von «Lyrik lebt» öffnete sich unmittelbar. Aus quadratischen Bildchen blickten ihr die Gesichter einiger Mitglieder entgegen, säuberlich am oberen Seitenrand aufgereiht. Unter ihnen auch ein schüchtern lächelnder Gerald Pallauf.
Inzwischen konnte die Gruppe von seinem Tod erfahren haben. Zwei der bunten, kostenlosen Tageszeitungen hatten Schnappschüsse von ihm gebracht, kombiniert mit Schlagzeilen wie «Gerald P.: Er erdrosselte die hübsche Sarah!» und in der nächsten Zeile, kleiner: «… bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagte». Doch die Einträge der Mitglieder konnte Beatrice noch nicht lesen. Erst musste der Administrator sie für die Gruppe freischalten.
Beatrice hoffte, dass sie dem Aufruhr noch zuvorkommen würde, den diese Nachricht zweifellos unter Pallaufs Netzbekanntschaften auslösen musste. Sie wollte die Reaktionen möglichst unmittelbar beobachten. Außerdem – wie wahrscheinlich war es, dass der Administrator sich um Neuaufnahmen kümmerte, wenn in seiner Gruppe gerade die Wogen aus Bestürzung, Trauer und Sensationsgier hochschlugen?
Beatrice loggte sich aus und meldete sich mit Mailadresse und Passwort von Gerald Pallauf wieder an. Ein Schritt, den sie gern vermieden hätte; nun durfte ihr nicht der kleinste Fehler passieren. Als Erstes vergewisserte sie sich, dass sein Chatstatus auf «offline» gestellt war. Dann sah sie sich auf «Lyrik lebt» um.
Nein, noch keine
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