Blinde Voegel
sie, dass er sich das Grinsen kaum verkneifen konnte. «Wahrscheinlich denkt Stefan an die aussagekräftigen Berichte, die du immer für Hoffmann schreibst. Kurz, aber von zauberhafter Präzision», bemerkte er.
«Ach, ihr!», grollte Stefan. «Ihr begreift gar nicht, wie perfekt die Adresse ist, gerade weil sie nicht das Geringste mit Beatrices Leben zu tun hat. Keiner, der Zauberfeder liest, wird an eine Polizistin denken. Sondern an eine Frau mit zu viel Zeit und einer Vorliebe für kitschige Gedichte.»
«Oder an einen eingeschworenen Harry-Potter-Fan.» Beatrice bemerkte, dass sie begonnen hatte, mit den Fingern auf die Tischplatte zu klopfen, und bremste sich. «Stefan, du hast recht. Harmloser geht es kaum. Perfekt.»
Er strahlte. «Dein Login ist happiness4u. Ist leicht zu merken, nicht?»
Und hat auch nichts mit meinem Leben zu tun , dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. «Klar. Dann werde ich mir große Mühe geben, meine Postings mit der passenden Fröhlichkeit abzuliefern.»
Sie wartete, bis die Kinder schliefen, bevor sie das Notebook auf den Couchtisch stellte und es einschaltete. Die Balkontür stand offen. Ein kühler Windstoß wehte den Duft der anbrechenden Nacht herein.
Beatrice fröstelte wohlig. Sie hatte ihr frisch gewaschenes Haar aus dem Gesicht gebunden und den Bademantel eng um sich geschlungen.
Zeit, auf die Jagd zu gehen. Der Gedanke holte unwillkürlich Bilder des letzten großen Falls aus ihrer Erinnerung. Der Täter, der sich bei ihr für die Jagd bedankt hatte, immer und immer wieder. Aber das war Vergangenheit, ebenso wie die Kälte und die Angst und die Dunkelheit.
Ich hätte eine andere Mailadresse für dich gewählt , hatte Florin gesagt, als sie mit dem Notebook unter dem Arm das Büro verlassen hatte. Welche, das hatte er für sich behalten.
Sie dachte an seine Arme, die das Erste gewesen waren, das sie wieder gespürt hatte in jener Nacht. Biss sich auf die Unterlippe, bis die Erinnerung sich verflüchtigte.
So, Kaspary, und jetzt lassen wir diesen Blödsinn und erfinden uns neu. Schicken wir Zauberfeder123 hinaus in die Welt.
Sie gab www.facebook.com in das Adressfeld des Browsers ein. Da war das Anmeldeformular. Vorname, Nachname. E-Mail-Adresse.
Sie wollte einen Namen, in dem sie sich zu Hause fühlte und der trotzdem nicht mit ihrem Leben in Verbindung gebracht werden konnte.
Und dann, fast als wäre er plötzlich ins Zimmer getreten, stand Herbert vor ihren Augen. Ihr alter Kollege, so wie er vor dem Schlaganfall gewesen war – laut, massig, unbezwingbar.
«Genau.» Beatrice lächelte wehmütig. «Lass uns noch ein letztes Mal gemeinsam ermitteln.» Sie tippte Herbert als Nachname ein.
Für den Vornamen brauchte sie länger und schalt sich selbst dafür, dass sie auf ein für die Sache ganz unwichtiges Detail derartig viel Zeit verschwendete. Ihr zweiter Name war Johanna, nach ihrer Großtante. Sie erwog und verwarf ihn wieder.
Evelyn.
Beatrices Finger schwebten über der Tastatur. Als Evelyn Herbert würde sie zwei der wichtigsten Menschen aus ihrer Vergangenheit gewissermaßen bei sich tragen.
Du bist kitschig, Hase. Das wäre Evelyns Kommentar dazu gewesen. Nimm einfach irgendeinen blöden Namen und lass es gut sein. Dolly oder Molly oder Pussy.
«Okay.» Als Achtjährige hatte sie Christina heißen wollen und ihre Mutter angefleht, sie umtaufen zu lassen. Mama hatte dafür nicht einmal ein müdes Lächeln übrig gehabt.
Dann also jetzt. Offenbar gab es für alles den richtigen Zeitpunkt.
Christina , tippte sie ein, überlegte kurz und korrigierte auf Tina. Das ließ keine klaren Rückschlüsse zu und konnte ebenso gut von Bettina oder Martina abgeleitet sein.
Mailadresse, Mailadresse wiederholen, Passwort. «Happiness for you», murmelte Beatrice und prostete dem Notebook mit ihrem Wasserglas zu.
Bei der Eingabe ihres Geburtsdatums stockte sie kurz, bevor sie sich für den 28. August entschied. Nicht ihr Geburtstag, aber der von Goethe, wie sie spaßeshalber gegoogelt hatte. Zu guter Letzt machte sie sich vier Jahre jünger – ein zweiunddreißigjähriges Alter Ego fühlte sich gut an. Fertig.
Die Bestätigungsmail von Facebook war innerhalb von Sekunden da. Ein Klick auf den Link, und Tina Herbert gesellte sich zu den knapp 900 Millionen Nutzern hinzu. Als Profilbild lud Beatrice ein drei Jahre altes Foto hoch, das sie immer noch als eines der besten empfand, die sie je geschossen hatte: ein Weinblatt, hinter dem die rote Abendsonne
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