Blinde Voegel
Society, die Reichen, Schönen und Gelifteten der Stadt, so aus der Fassung bringen konnte, sogar mehr sichtbare Verbitterung in ihm weckten als die Morde, mit denen sie es täglich zu tun hatten, fand sie erstaunlich.
Nein, sicher nicht mehr Verbitterung. Aber eine andere Art, eine persönlichere. An der nächsten roten Ampel sah Beatrice erneut zu Florin, der konzentriert seine Hände betrachtete, die Finger krümmte und wieder öffnete, als müsste er darüber nachdenken, ob sie auf dem Klavier Ähnliches zu vollbringen imstande wären wie die seines Bruders.
Sie musste an seine Wohnung denken, an seine Kleidung, die Gemälde, die er in seiner Freizeit malte. Hasste Florin die von ihm so genannten Kreise so sehr, weil er seinen Ursprung dort hatte?
Ira Sagmeister
Patrouille
Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.
5 Personen gefällt das
Beatrice lag auf dem Sofa. Das Notebook lag auf ihrem Bauch und war an die hochgestellten Beine gelehnt. 21:03 zeigte die Uhr in der rechten unteren Bildschirmecke. Hoffmann konnte sich nicht beschweren, sie verschwendete kaum reguläre Arbeitszeit auf ihre Online-Recherche.
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Meine Güte. Ira Sagmeisters Talent, dunkle Texte durch noch dunklere zu toppen, war enorm. Und fünf Personen gefiel das. Beatrice überlegte, ob Tina Herbert sich nicht dazugesellen sollte, und beschloss, dass ein besserer Zeitpunkt so bald nicht kommen würde.
Dir und fünf anderen Personen gefällt das.
Deutlich mehr Personen waren allerdings befremdet, wie Beatrice den Kommentaren entnahm, und zwar weniger von dem Gedicht, als von dem merkwürdigen Foto, das Ira dazugestellt hatte.
Eine BP-Tankstelle. Im Vordergrund zog eine Frau den Benzinstutzen aus ihrem schwarzen Golf und blickte dabei mit gerunzelter Stirn in die Kamera, offenbar verärgert, ungefragt fotografiert zu werden. An einer weiteren Zapfsäule parkte ein silberner Kombi.
Gedicht und Bild wirkten wie aus zwei verschiedenen Welten. Das stellte auch ein gewisser Oliver Hegenloh fest. «Hast du dich in der Bilddatei vergriffen?», fragte er.
Ira Sagmeister Nein, und du musst das nicht verstehen.
Oliver Hegenloh Würde ich aber gerne. Wir sind doch zum Diskutieren hier, oder nicht?
Nikola DVD Ira, kein Grund, dich zu rechtfertigen. Diese «Patrouille» bewegt mich sehr, bei mir ist deine Botschaft angekommen.
Oliver Hegenloh Vielleicht steht die Tankstelle symbolisch für all die Kriege, die schon wegen des Öls ausgefochten worden sind? Dann verstehe ich auch, was du meinst.
Helen Crontaler Das ist ein guter Ansatz, Oliver. Ich finde den Kontrast zwischen Wort und Bild spannend, er trägt die Botschaft des Gedichts ganz nah an unsere alltägliche Welt heran.
Christiane Zach Ist das nicht die BP-Tankstelle beim Flughafen?
Beatrice vergrößerte das Bild. Ja, diese Christiane hatte recht, das konnte tatsächlich die Tankstelle auf der Innsbrucker Bundesstraße sein. Von dort aus war es nur ein Katzensprung zum Flughafen Salzburg.
So weit nichts Besonderes. Dass auch Ira hier lebte, war ja nichts Neues, und dass sie anders tickte als die meisten der Gruppenmitglieder, ebenfalls.
Wenn es jemanden gab, der näherer Betrachtung wert war, dann sie. Beatrice scrollte weiter, um die folgenden Kommentare zu lesen.
Ren Ate Vergesst doch bitte die Tankstelle. Das Gedicht ist großartig, so reduziert, wie es ist. Mir macht es Gänsehaut, besonders nachdem ich den Dichter nachgeschlagen habe. Er beschreibt den Krieg und ist im Krieg gefallen.
Nikola DVD Spüre ich aus jedem Wort. Am meisten aus denen, die fehlen.
Ira Sagmeister Es kommt immer auf das an, was fehlt. Nie auf das Offensichtliche, sondern auf das, was wir im Kopf ergänzen müssen.
Boris Ribar Und jeder ergänzt etwas anderes. Das macht es so faszinierend.
Helen Crontaler Richtig, das ist das Wunderbare bei der Auseinandersetzung mit Lyrik, ebenso wie bei der mit Musik. Wir bringen uns selbst ein, und erst in unserem Kopf wird das Kunstwerk vollendet.
Dominik Ehrmann Ich stimme zu. Wir vollenden und ergänzen. Danke, Ira.
Beatrice ertappte sich dabei, wie sie mit den Fingern der linken Hand auf die Couch trommelte.
Aufhören. Konzentrieren.
Es kommt immer auf das an, was fehlt, schrieb Ira, und alle stimmten ihr zu. Dominik Ehrmann bedankte sich sogar dafür.
Wer war das noch mal? Ah ja, der gutaussehende Lehrer aus Gütersloh.
Kurz entschlossen schickte Beatrice ihm in Tina
Weitere Kostenlose Bücher