Blinde Voegel
ein Boris Ribar würden nach einigen Stunden der Betroffenheit zur Tagesordnung übergehen, Letzterer eventuell mit einem gewissen Schwung im Schritt, weil er endlich etwas zu schreiben hatte.
Sogar Oliver Hegenloh, dem Ira immerhin einmal ihr Herz ausgeschüttet zu haben schien, würde ihren Tod auf lange Sicht kaum als großen Einschnitt in seinem Leben empfinden.
Und Marja? Beatrice las noch einmal nach. Wenn der tod umgeht, dann verstecke ich mich. Ich kenne ihn gut, und spühre, wenn er in meiner Nähe ist. Ira hat er schon geholt.
Für sie bestand offenbar kein Zweifel mehr. Beatrice streckte ihre Finger und legte sie auf die Tastatur.
Tina Herbert Den ganzen Tag über hatte ich keine Gelegenheit, auf Facebook zu gehen, und habe so sehr gehofft, dass es jetzt schon Entwarnung gibt. Marja, wenn ich deine Zeilen lese, bekomme ich auch Angst. Woher willst du denn wissen, dass der Tod Ira geholt hat?
Nein, es las sich nicht so heuchlerisch, wie es sich beim Schreiben angefühlt hatte.
Ren Ate Genau das meine ich die ganze Zeit. Wir können nach dem Warum und Wieso fragen, wenn wir wissen, was passiert ist, aber nicht vorher.
Dominik Ehrmann Tina, ich wollte dir für deine klugen Worte von gestern danken. Du hast den richtigen Ton getroffen.
Tina Herbert Ich habe nur geschrieben, was mir durch den Kopf gegangen ist. Marja, antworte mir doch bitte. Warum bist du so sicher, dass Ira tot ist? Hat sie dir noch eine Botschaft geschickt?
Marja Keller Der Tod ist groß, wir sind die Seinen. Ira hat es für uns alle aufgeschrieben.
Oliver Hegenloh Das ist doch nur ein Gedicht. Und genau darum dreht es sich doch in dieser Gruppe!
Marja Keller Du kannst das nicht verstehen. Weil du den Tod nicht kenst. Ich habe ihn gestern durch Iras Zeilen durch gesehen. Aber es ist egal, fragt mich nicht mehr, wenn ich mich irre, umso besser.
Marja Keller Aber dass glaube ich nicht.
Ein leichter Wind brachte die Flamme des Teelichts in der kleinen Laterne auf dem Balkontisch zum Tanzen. Der Herbst streckte die Finger nach den letzten warmen Abendstunden des Jahres aus und stellte die Härchen auf Beatrices Unterarmen auf.
Egal. Ein wenig würde sie es noch aushalten, lange genug für eine kurze Google-Recherche zu den beiden Personen auf ihrer Liste, die sie aktuell am meisten interessierten. «Oberflächenermittlung» nannte Florin das. Sie gab Marja Keller, auf deren Profil sie keinen Zugriff hatte, ins Suchfeld ein und überflog die ersten Treffer.
Es musste zumindest drei Frauen dieses Namens geben. Eine davon lebte in den USA, eine in der Schweiz, die dritte in Konstanz.
Beatrice schüttelte über sich selbst den Kopf, über den Anflug von Enttäuschung, der ihrem Tatendrang bleierne Zügel anlegen wollte. Gut, anders, als sie erwartet hatte, wohnte Marja nicht in Salzburg, und vermutlich gab es im realen Leben keine Verbindung zwischen ihr und Ira. Es wäre auch ein bisschen zu einfach gewesen.
Zwei der Marjas verfügten über ein Facebook-Profil. Das eine kannte Beatrice – genauer gesagt, kannte sie das Profilfoto, das einen am Wasserhahn hängenden Tropfen zeigte, der sich in der nächsten Sekunde lösen und nach unten stürzen würde. Kein Gesicht.
Ganz anders das Profil der zweiten Marja: gespickt mit Fotos von sich selbst während des Bungee-Jumpens, Raftens und Eiskletterns. Sie postete jedes Wochenende die Anzahl der Höhenmeter, die sie beim Bergsteigen überwunden hatte. Das hier war keine Lyrikfreundin mit zunehmender Angst vor dem Tod, sondern eine Extremsportlerin. Und sie lebte in der Schweiz.
Also dürfte meine Marja aus Konstanz sein, dachte Beatrice und schrieb die Stadt neben den Namen. Sie googelte weiter und fand einen Eintrag, dem zufolge Marja Keller in der Personalabteilung von Schmidt&Grauman Textilien, Konstanz beschäftigt war. Noch eine Notiz.
Oliver Hegenloh war der Nächste. Die Namenskombination gab es laut Suchmaschine dreimal: in Flensburg, Münster und Dortmund. Von Facebook kannte Beatrice das Gesicht des richtigen Oliver, aber den Wohnort gab er im Profil leider nicht preis.
Nach einigem Hin und Her platzierte Beatrice ihn nach Münster. Der dortige Oliver Hegenloh war Student der Pharmazie. Er hatte mehrfach Mitschriften und Übungsaufgaben online gestellt, außerdem führte er ein Blog unter dem Titel «Books and Pills», in dem er über sein Studium und seine Lesevorlieben berichtete. Immer wieder zitierte er dort auch Gedichte – das passte zu gut, um Zufall zu sein.
Über einen
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