Blinde Voegel
die Dinge nicht einfacher. Noch ein Schritt. Eben krabbelte Jakob auf das Floß, rannte das Sprungbrett entlang und bremste knapp vor dessen Ende ab. Hüpfte ein wenig und sprang mit angezogenen Knien in den See.
Sie würde es bis zu diesem Floß schaffen, mehr als dreißig Meter war es nicht entfernt. Sie war eine gute Schwimmerin, das hatte sie vor ein paar Monaten doch bewiesen.
Einige Köpfe wandten sich zu ihr um, als sie laut auflachte, und sie ging weiter, zügig, bis das Wasser ihr an die Brust reichte.
Gut. Und jetzt los. Den Boden unter den Füßen verlieren, freiwillig. Sie stieß sich ab, nur um sofort wieder mit den Zehen nach Grund zu tasten. Da war er. Sie konnte hier stehen, ein Glück.
Beatrice zwang sich, ruhig zu atmen, gegen das unvernünftige Tempo ihres Herzschlags an. Eine leichte Brise trieb zwei rote Blätter über das Wasser, knapp an ihr vorbei.
Damals hatte sie gesungen, um bei Bewusstsein zu bleiben, hatte gesungen, was ihr gerade eingefallen war. Twinkle, twinkle, little star , summte sie leise vor sich hin und hielt das Floß fest im Blick, während sie es dem See überließ, sie zu tragen. Ihre ersten drei Schwimmzüge fielen hektisch aus, doch der vierte war bereits ruhiger und kräftiger. Ira Sagmeister, Gerald Pallauf und Rainer Maria Rilke waren am Ufer zurückgeblieben.
«Mama!» Mina winkte ihr mit beiden Armen, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu versichern, bevor sie einen vollendeten Kopfsprung vom Brett vollführte.
Viel schneller, als sie erwartet hatte, erreichte Beatrice das Floß. Das Holz unter den Fingern zu spüren, erleichterte sie trotz allem, sie zog sich hoch, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Ein Sieg, von dem sie niemandem erzählen konnte, weil keiner von ihrem Kampf gewusst hatte. Aber trotzdem ein Sieg.
Der Nachmittag verlief friedlich. Achim war betont freundlich, und die Kinder waren so gut gelaunt, dass Beatrice sich zu einem gemeinsamen Abendessen in ihrer ehemaligen Stamm-Pizzeria überreden ließ.
Danach fuhr sie allein nach Hause. Stellte das Notebook auf den Tisch, klappte es aber nicht auf. Nein, nicht heute Abend.
Sie öffnete eine Flasche Rotwein und überlegte, ob es jemanden gab, mit dem sie sie gern gemeinsam leeren würde. Kam zu keinem klaren Ergebnis. Fragte sich, wie es Florin in Amsterdam ging, und spielte sich ihren eigenen SMS-Ton am Handy vor, in der festen Absicht, ihn danach endlich zu ändern. Probierte einige Melodien durch, fand aber keine, die es mit Moon River aufnehmen konnte, und verschob ihr Vorhaben auf den folgenden Tag.
Der See hatte ganze Arbeit geleistet. Erst am nächsten Morgen, beim Frühstück, fiel Beatrice auf, dass Stefan ihr keine SMS geschickt hatte. War seine Recherche gänzlich erfolglos gewesen?
Sie überlegte kurz, ihn anzurufen, entschied sich aber dagegen. Er bekam so wenig Schlaf in letzter Zeit, dass nur ein absoluter Notfall sie dazu bringen würde, ihn am Sonntagmorgen zu stören. Sie selbst hingegen war ausgeruht, würde einen Recherche-Tag zu Hause verbringen und dabei nicht mehr am Körper tragen als ihren Lieblings-Bademantel.
Während die zweite Tasse Kaffee durch die Maschine lief, klappte sie das Notebook auf und fand eine Mail von Stefan vor, abgeschickt am späten Nachmittag des vorigen Tages.
Liebe Beatrice!
Nach dem Tod von Gerald Pallauf und Sarah Beckendahl haben sich elf neue Mitglieder in der Gruppe registriert. Wenn wir Tina Herbert subtrahieren, bleiben zehn, und einer davon ist Boris Ribar, du hattest ganz recht. Leih mir bei Gelegenheit bitte deine Glaskugel :-)) Bei Facebook ist er allerdings schon seit fast zwei Jahren.
Neu in der Gruppe sind außerdem: Ulrike Ginther, Olaf Meyer, Renate Diekmann, Susa Leitinger, Klaus Janisch, Amelie Weher, Roman Kessler, Victoria Trotter und Hildegard Wichert.
Sagt dir einer der Namen etwas? Ich habe mir auch gleich die Wohnorte dazu geben lassen, die Liste liegt auf deinem Schreibtisch. Außer Victoria Trotter sind alle neuen Mitglieder aus Deutschland, Trotter kommt aus Wien.
Ich hoffe, das hat dir geholfen? Ach ja, in den letzten Tagen sind keine neuen Leute in die Gruppe gekommen. Sieht so aus, als hätte Helen Crontaler dichtgemacht.
Ich wünsche dir ein schönes Wochenende! Bis Montag!
Stefan
Keine weiteren Salzburger Interessenten also. Und wenn doch, hatte Crontaler sie vor der Tür stehenlassen. Sie würden ihr sagen müssen, dass das keine gute Idee war. Wer sich zu diesem Zeitpunkt für die Gruppe
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