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Blinde Voegel

Blinde Voegel

Titel: Blinde Voegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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aufgebaut wie ein Turm. Bislang hatten die Crontalers sich noch nicht herangewagt. Sie hielten sich an Bechner, dem es erst vor wenigen Minuten gelungen war, sie abzuschütteln und sich auf die anderen Gäste zu konzentrieren.
    Zehn vor drei. Beatrice ließ ihren Blick nach rechts schweifen. Eine rundliche Frau in einem dunkelblauen Kleid ging zögernd auf die Kirche zu. An ihrer ebenfalls blauen Strumpfhose zog sich eine Laufmasche von der Ferse bis zur Kniekehle, möglicherweise noch weiter. Konnte das Nikola sein? Jedenfalls lief sie direkt auf Helen Crontaler zu, und die ließ sogar ihren Mann für einige Momente los, um die neu Eingetroffene zu umarmen. Wenn das wirklich Nikola war, hatte sie nicht nur bei ihrem Namen, sondern auch bei der Angabe ihres Geburtsjahrs dreist gelogen – diese Frau hier war keinesfalls 1992 geboren, sondern gut zwanzig Jahre früher. Bei näherer Betrachtung war allerdings die Ähnlichkeit mit dem Profilbild von Christiane Zach ohnehin nicht zu verleugnen.
    Bisher war noch niemand von der Presse aufgetaucht. Gut, es war offiziell nie von Mord die Rede gewesen, davon abgesehen gaben Beerdigungen besseren Stoff als eine schlichte Messe. Aber nicht einmal Ribar war erschienen, und mit ihm hatte Beatrice fest gerechnet. Andererseits: Kein freiberuflicher Journalist konnte es sich leisten, Tag und Nacht an einer Sache dranzubleiben, die am Ende vielleicht im Sand verlief. Trotzdem hielt sie nach ihm ebenso Ausschau wie nach Dominik Ehrmann – und bei Letzterem hatte sie Glück.
    Er war hochgewachsen, trug dunkle Jeans und eine Lederjacke mit hochgeschlagenem Kragen. Sein Haar wirkte kürzer als auf seinem Profilbild, und als er den Zebrastreifen überquerte, kaum zehn Meter von Beatrices Versteck entfernt, sah er einen Moment lang genau in ihre Richtung.
    Sie wandte die Augen ab, was Unsinn war, denn hinter der dunklen Scheibe war sie praktisch unsichtbar.
    Ein schneller Blick auf die Uhr, und Ehrmann beschleunigte seine Schritte, grüßte die Crontalers, ohne sich von ihnen aufhalten zu lassen, und verschwand in der Kirche. Als hätte man dort nur auf ihn gewartet, begannen die Glocken zu läuten. Florin nahm Dietmar Sagmeisters Arm und begleitete ihn nach drinnen. Innerhalb von zwei Minuten war der Vorplatz der Kirche menschenleer.
    Beatrice spürte, wie die Anspannung aus ihrem Körper wich, und fragte sich, was sie eigentlich erwartet hatte.
    Ein Aha-Erlebnis, eine plötzliche Eingebung, hervorgerufen durch ein Gesicht, eine Geste?
    Ein Pärchen um die zwanzig kam Arm in Arm näher, blieb vor der Kirche stehen. Er schüttelte den Kopf, was er meinte, war deutlich. Ich habe es mir anders überlegt. Seine Begleiterin zog ihn am Ärmel hinter sich ins Gebäude hinein, und er ließ es geschehen. War das Mädchen eventuell Nikola gewesen? Gut möglich, dass sie nicht allein angereist war.
    Dann passierte lange nichts. Passanten liefen vorbei, ein Hund erleichterte sich auf dem Kirchenplatz, und sein Besitzer entfernte pflichtschuldigst den Haufen. Ein Mann um die dreißig setzte sich an den Rand eines der Blumentröge und zündete sich eine Zigarette an, verschwand aber wieder, als er fertig geraucht hatte.
    Verlorene Zeit, dachte Beatrice. Blieb nur zu hoffen, dass Florin und Bechner in ihren Gesprächen etwas Aufschlussreiches erfahren hatten. Und dass ihre Verabredung mit Ehrmann weniger enttäuschend verlaufen würde.

    «Sie sind alle sehr betroffen, aber niemand weiß etwas, abgesehen davon, dass jeder von ihnen sein persönliches psychologisches Urteil über Ira gefällt hat.» Florin wirkte gereizt und mitgenommen. Die Crontalers hatten nach der Messe darauf bestanden, Iras Vater nach Hause zu fahren, was der gerne angenommen hatte. Er konnte ja nicht wissen, worauf er sich einließ. «Es tut mir so gut, mit Menschen zu sprechen, die Ira gekannt haben», hatte er gesagt. Helen, die Ira kein einziges Mal begegnet war, hatte lächelnd genickt.
    In ihren Gesprächen mit Bechner hatten die anwesenden Studenten Ira als klug, aber ruppig im Umgang beschrieben, mit nur wenigen Freunden, von denen sie sich im vergangenen Jahr mehr und mehr zurückgezogen habe. Vom Selbstmord der Mutter hatte sie nie erzählt. «Keiner von ihnen wusste das, die waren alle überrascht, als ich es erwähnt habe.»
    «Okay, und die aus der Lyrikgruppe? Gab’s da was Neues? War Nikola da?»
    Florin und Bechner schüttelten die Köpfe. Synchron, als hätten sie es einstudiert. «Niemand, der auch nur

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