Blinde Voegel
schon auf seinem Platz, er hat sich vorhin gemeldet.»
«Okay. Du bist vorsichtig, ja?»
Ihr lag eine launige Antwort auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Seine Sorge war echt.
«Natürlich bin ich das. Wir sind in einem belebten Lokal, Stefan ist da, und ich habe mehrere Selbstverteidigungskurse hinter mir. Ich komme mit einem Sozialkundelehrer zurecht, versprochen.»
Das Lächeln, das sie mit ihrer Antwort bei Florin hatte hervorrufen wollen, kam nicht. «Natürlich tust du das. Ich denke nur, dass wir immer noch nicht wissen, mit wem Ira an ihrem letzten Abend verabredet war. Ich habe es gerade ausgerechnet, Ehrmann könnte mittags von Gütersloh weg- und in der Nacht wieder zurückgefahren sein. Das hätte niemandem in seiner Umgebung auffallen müssen.»
Wäre die Zeit ihr nicht davongelaufen, Beatrice hätte dem Bedürfnis nachgegeben, noch einmal zu Florin zu gehen und die steile Falte fortzuwischen, die sich zwischen seine Augenbrauen gegraben hatte.
«Ich bin vorsichtig. Keine Alleingänge, keine spontanen Aktionen.»
«Okay.»
«Hab einen schönen Abend, Florin.»
Die Schuhe waren ein Fehler gewesen. Beatrice hatte ihr Auto am Franz-Josefs-Kai geparkt und würde kaum zwei Minuten bis zum «Republiccafé» brauchen, aber die hohen Absätze zwangen ihr Aufmerksamkeit für jeden einzelnen Schritt ab. Im Vorbeigehen überprüfte sie ihr Erscheinungsbild in der schwachen Reflexion eines Schaufensters. Nein, man sah ihr das Unbehagen nicht an, ihr Gang wirkte erstaunlich sicher.
Die ersten Tische des Cafés kamen in Sicht. Noch waren die Abende warm genug, um draußen unter den hohen Schirmen zu sitzen. Kaum ein Platz war dort mehr frei, aber Beatrice steuerte ohnehin nicht das Café, sondern das dazugehörige Restaurant an, das Ehrmann vor knapp zehn Minuten betreten hatte.
Zeit für letzte Vorbereitungen. Sie schaltete das Aufnahmegerät ein und schob es so ins Handyfach ihrer Handtasche, dass der Teil, an dem das Mikrofon angebracht war, ein kleines Stück hervorragte.
Das Handy steckte sie in die Jacke, nicht ohne zuvor noch einmal Stefans SMS zu lesen.
E. hat sich für einen Tisch im Restaurant entschieden. Wenn du reinkommst, sitzt er gleich links.
Als Erstes stach ihr allerdings Stefan selbst ins Auge, der vor einem dampfenden Teller saß und betont langsam Suppe in sich hineinlöffelte.
Beatrice blieb im Eingang stehen und ließ ihren suchenden Blick über die Gäste gleiten, obwohl sie Ehrmann längst entdeckt hatte. Ein zu selbstverständliches Erkennen würde ihn möglicherweise stutzig machen. Erst als er winkte und fragend den Kopf neigte, ging sie lächelnd auf ihn zu.
«Ich – ähm – wir sind verabredet, nicht? Sind Sie Herr Ehrmann?»
Er war aufgestanden, um ihr die Hand zu schütteln. «Ja.»
«Tina Herbert. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.»
«Kein Problem.» Er hatte eine angenehm tiefe Stimme und roch gut, wie Beatrice feststellte, als er ihr den Stuhl zurechtrückte.
«Merkwürdige Situation, ich weiß.» Er lachte kurz auf. «Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie so hübsch sind … Entschuldigung, das klingt jetzt wirklich blöd, aber die meisten hübschen Frauen verzichten nicht darauf, ihr Gesicht als Profilbild bei Facebook einzustellen.»
Wenn er flirten wollte, konnte er das haben. Dann standen die Chancen nicht schlecht, dass er unvorsichtig werden würde, vor allem, wenn er sie für ein bisschen einfältig hielt.
«Na ja.» Beatrice entfaltete ihre spitz geformte Stoffserviette und strich sie mit beiden Händen glatt. «Ich denke mir immer, sicher ist sicher.»
«Das stimmt natürlich. Wollen wir du zueinander sagen? Im Netz tun wir das auch, und das Sie fühlt sich für mich irgendwie falsch an.»
«Ja, gerne.»
Er strahlte sie an. «Toll. Dann lass uns erst einmal bestellen, Tina, bevor wir uns den ernsten Dingen zuwenden.»
Sie hatte tatsächlich Hunger, wie sie beim Lesen der Speisekarte bemerkte. Mango-Chili-Risotto hörte sich sehr verlockend an, aber den Wein, den Ehrmann dazu ordern wollte, schlug sie mit Hinweis auf ihr Auto aus.
Als der Kellner wieder ging, stockte ihre Unterhaltung, und Beatrice hatte nicht vor, sie in Gang zu halten. Sie würde Ehrmann reden lassen, immerhin war ihm doch so an diesem Treffen gelegen. Aber es schien ihm schwerzufallen, einen Anfang zu finden, und so rettete er sich in die banalste aller Möglichkeiten: das Wetter. Was für ein angenehmer September. War nicht der Herbst die
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