Blinde Wahrheit
weiß, worauf man achten muss, ist das nicht allzu schwer zu erraten. Ich wusste, dass sie verheiratet war, denn es ist immer noch zu sehen, wo sie den Ring getragen hat, obwohl das bereits eine Weile her ist. Außerdem merkt man schon an ihrem Verhalten, dass sie mehr als einmal in ihrem Leben misshandelt wurde. Dieses Mädchen hat sicherlich noch nie irgendwas angestellt, das kann also nicht der Grund sein, warum sie Angst vor Polizisten hat. Die einzig sinnvolle Erklärung ist, dass sie von einem Cop geschlagen wurde.« Schon allein der Gedanke daran versetzte Ezra in Rage. »Hat sie versucht, Hilfe zu bekommen?«
»Ja, doch es hat nicht sonderlich viel gebracht. Sein Vater war der Polizeichef im Ort und seine Mutter eine der beiden Ärzte in der Stadt. Er selbst hat als Kapitän der Footballmannschaft und Mitglied des Schülerrats geglänzt. Unser aller Goldjunge eben. Er hatte nie Ärger am Hals, war einer dieser Jungs, die nichts falsch machen können. In der zehnten Klasse kamen Hope und er zusammen. Nachdem er seinen Collegeabschluss gemacht hatte, heirateten sie noch im gleichen Sommer. Ich glaube allerdings, dass der psychische Missbrauch schon sehr viel früher angefangen hat. Alle dachten, die beiden würden eine Bilderbuchbeziehung führen.« Law wandte sich ab und begann auf und ab zu gehen, wobei er mit seinen Stiefeln das trockene Laub aufwühlte. »Während der ersten Jahre hat Hope mir immer wieder gesagt, alles sei in Ordnung – ich bezweifle jedoch, dass es so war. Vielleicht wollte sie es einfach selbst gern glauben.«
»Sie hat ihn verlassen. Du machst dir Vorwürfe, das würde ich an deiner Stelle wahrscheinlich auch. Aber sie hat ihn verlassen, vergiss das nicht.«
»Stimmt wohl.« Law blieb stehen und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Hast du jemals darüber nachgedacht, jemanden umzubringen?«, fragte er mit tonloser Stimme.
Das strömende Blut … der Geruch, das klebrige Gefühl. Daran konnte Ezra sich erinnern, auch wenn ihm sonst nichts von dieser Nacht im Gedächtnis geblieben war. Er hätte sich lieber an gar nichts erinnert, als so deutlich vor Augen zu haben, wie er über und über mit Macs Blut bedeckt gewesen war.
»Willst du wirklich wissen, wie es ist, jemanden zu töten, Law?«, presste Ezra hervor. »Willst du wirklich mit dieser Last auf den Schultern herumlaufen?«
»Danach habe ich nicht gefragt.« Law drehte sich um, neigte den Kopf und sah ihn aus seinen braunen Augen aufmerksam an. »Es ist nicht dasselbe, ob man jemanden umbringt oder es sich vorstellt. Und wahrscheinlich ist es auch noch mal etwas anderes, wenn man darüber nachdenkt, jemanden zu töten, der wirklich sterben muss, wenn man eben derjenige ist, der den Abzug drücken muss, weil … na ja, aus welchem Grund auch immer.«
Ezra griff sich an die Kehle und schaute weg. Aus welchem Grund auch immer.
Gründe? Er hatte sich nicht groß mit den Gründen befasst, sondern innerhalb von Sekunden – weniger noch – eine Entscheidung fällen müssen. Sollte er den Abzug drücken oder seinen eigenen Tod riskieren?
»Wie hieß er? Der Mistkerl, der Hope verprügelt hat?«
Law bekam einen bitteren Zug um den Mund. »Joe. Joey. Ich hab ihn auch mal zu meinen Freunden gezählt. Und das fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube, das sag ich dir.«
»Kann ich mir vorstellen.« Ezra stand von dem Baumstamm auf und schaute in den Wald. Hier unter dem Blätterdach war es dunkler und kühler – zumindest ein wenig. Es herrschte eine solche Bullenhitze, dass der Temperaturunterschied nicht wirklich ins Gewicht fiel. Sein Hemd klebte ihm auf der Haut, Schweiß lief ihm an Hals und Rücken hinunter. »Dieser Kerl, Joe, war also ein Polizist und anscheinend ein mieses Arschloch, das seine Frau verprügelt hat. Eure halbe Stadt frisst ihm aus der Hand. Ist er noch in Besitz seiner Dienstmarke?«
Laws Gesichtsausdruck sprach Bände.
Ezra drehte sich der Magen um. Noch ein niederträchtiger Polizist. Vielleicht nicht so niederträchtig wie Mac, aber wie sonst sollte man einen Polizisten nennen, der seine Frau schlug und es schaffte, damit durchzukommen? Niederträchtiger ging es doch wohl kaum.
Jetzt schnürte es ihm obendrein die Kehle zu. Das Blut rauschte in seinen Ohren.
Denk nicht daran. Denk nicht daran , befahl er sich selbst.
»Er hat also immer noch seine Dienstmarke.« Ezra stieß den Atem aus. »Na, dann lass mich dir erklären, wo der Haken an der Sache ist … abgesehen davon, dass er sein
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