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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nichts zu sehen. Als ich fragte, wo man denn Pinguine sehen könne, schüttelten die Leute nur stumm den Kopf. Offenbar konnten sie mich nicht verstehen, also zeichnete ich ein Bild von einem Pinguin auf ein Blatt Papier. Aber auch das rief nur stummes Kopfschütteln hervor. Ich fühlte mich sehr einsam. Kaum ging man einen Schritt vor den Ort, sah man nichts als Eis und Schnee. Es gab keine Bäume, keine Blumen, weder Flüsse noch Teiche. Überall nur Eis. Soweit das Auge reichte, eine einzige Eiswüste.
    Doch mein Mann mit seinem weißen Atem, seinen bereifenden Fingern und dem fernen eiszapfenscharfen Blick erkundete unermüdlich und voller Energie die Umgebung. Er lernte mühelos die Sprache und unterhielt sich bald in ihrem harten, klirrenden Tonfall mit den Bewohnern des Ortes. Stundenlang redeten sie mit ernsten Mienen aufeinander ein. Doch ich konnte nicht verstehen, worüber sie sich so angeregt unterhielten. Mein Mann ging völlig in der neuen Umgebung auf. Sie schlug ihn ganz in ihren Bann. Am Anfang ärgerte ich mich darüber, denn ich hatte das Gefühl, auf der Strecke zu bleiben, fühlte mich hintergangen und vernachlässigt.
    Nach und nach verließ mich jedoch in dieser eisbepackten, stummen Welt alle Kraft, bis ich am Ende sogar zu schwach war, mich über meine Lage aufzuregen. Anscheinend hatte ich sogar den Kompass meiner Gefühle verloren: meinen Orientierungssinn, mein Zeitgefühl und das Gefühl für die Bedeutung meiner eigenen Existenz. Ich wusste nicht, wann das angefangen hatte und ob es wieder vorbeigehen würde. Doch ehe ich mich versah, war ich ganz allein in der Farblosigkeit des ewigen Winters in dieser eisigen Welt eingeschlossen. Doch auch nachdem ich schon jedes Gefühl verloren hatte, wusste ich, dass mein Mann hier am Südpol nicht der Mann war , den ich kannte. Ich konnte nicht genau sagen, was anders an ihm war, denn er war noch immer aufmerksam und hatte liebevolle Worte für mich, die, das wusste ich, auch von Herzen kamen. Aber ich wusste auch, dass er ein anderer war als der Eismann, den ich damals in dem Skihotel kennen gelernt hatte. Doch bei wem sollte ich mich beklagen? Die Menschen am Südpol konnten ihn alle sehr gut leiden, und ganz abgesehen davon hätten sie sowieso kein Wort verstanden. Alle stießen weißen Atem aus, hatten bereifte Gesichter, scherzten, diskutierten und sangen in der klirrenden Sprache des Südpols. Also verkroch ich mich allein im Hotelzimmer, starrte in den grauen Himmel, der monatelang nicht aufklarte, und büffelte die schrecklich komplizierte Grammatik der Südpolsprache (die ich nie lernen würde).
    Auf dem Flugplatz waren keine Flugzeuge mehr. Seit unseres uns abgesetzt hatte, war keines mehr gelandet, und die Rollbahn war inzwischen unter einer dicken Eisschicht begraben. Wie mein Herz.
    »Es ist Winter«, sagte mein Mann. »Die Winter sind hier sehr lang. Es kommen weder Flugzeuge noch Schiffe. Alles ist zugefroren. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf den Frühling zu warten.«
    Drei Monate, nachdem wir zum Südpol gekommen waren, merkte ich, dass ich schwanger war, und wusste, dass ich einen kleinen Eismann zur Welt bringen würde. Mein Uterus war überfroren und im Fruchtwasser schwammen kleine Eisstückchen. Ich konnte die Kälte in meinem Bauch spüren. Unser Kind würde den Eiszapfenblick seines Vaters haben und bereifte Händchen. Und ich wusste, unsere neue kleine Familie würde niemals mehr den Südpol verlassen. Die ewige Vergangenheit beschwerte unsere Füße mit ihrem unendlichen Gewicht, das wir nie würden abschütteln können.
    Ich habe jetzt kaum noch so etwas wie ein Herz. Meine Wärme hat sich ganz weit zurückgezogen. Mitunter vergesse ich sie sogar. Aber ich kann noch weinen. Ich bin wirklich allein. Am einsamsten und kältesten Ort der Welt. Wenn ich weine, küsst der Eismann mich auf die Wangen, und meine Tränen werden zu Eis. Er sammelt sie auf und legt sie sich auf die Zunge. »Ich liebe dich«, sagt er, und ich weiß, dass es keine Lüge ist. Der Eismann liebt mich wirklich. Doch der Wind weht seine weißen eisigen Worte weiter und weiter in die Vergangenheit. Ich weine. Unablässig rollen eisige Tränen über mein Gesicht. In unserem Haus aus Eis, irgendwo am fernen, eisigen Südpol.

Krebse
    Sie hatten das kleine Restaurant ganz zufällig entdeckt. Als sie an ihrem ersten Abend in Singapur am Wasser spazieren gingen und spontan in eine Gasse einbogen, standen sie plötzlich vor einem ebenerdigen Haus,

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