Blinde Weide, Schlafende Frau
Moment lang überlegte er schweigend. Dann sagte er mit blitzender Stimme: »Gut, wenn du zum Südpol willst, fahren wir auch hin. Du möchtest wirklich dorthin, ja?«
Ich nickte.
»In zwei Wochen kann ich einen längeren Urlaub nehmen. Bis dahin könntest du alles für die Reise vorbereiten. Meinst du, das geht?«
Ich konnte nicht sofort antworten. Sein Eiszapfenblick hatte mein Gehirn eingefroren und lahm gelegt.
Mit der Zeit bereute ich es jedoch, meinem Mann die Reise zum Südpol vorgeschlagen zu haben. Warum, weiß ich nicht. Seit ich den Südpol erwähnt hatte, schien eine Veränderung in ihm vorzugehen. Seine Blicke wurden schärfer und noch eiszapfenhafter als früher, sein Atem weißer und der Reif auf seinen Händen dicker. Er wurde auch schweigsamer und sturer. Er aß nun überhaupt nichts mehr. All das verunsicherte mich. Fünf Tage vor unserer geplanten Abreise beschloss ich, mit ihm zu reden.
»Ich finde, wir sollten lieber doch nicht zum Südpol fahren«, sagte ich. »Das Klima ist bestimmt viel zu kalt und gar nicht gesund. Ich finde, wir sollten an einen normaleren Ort reisen. Nach Europa vielleicht. Spanien wäre sicher erholsamer. Wir könnten Wein trinken, Paella essen und sogar Stierkämpfe sehen.« Aber mein Mann hörte nicht auf mich. Er sah mich wie aus weiter Ferne an und blickte mir dann tief in die Augen, so tief, dass ich fast das Gefühl hatte, ich würde mich auflösen.
»Nein«, sagte mein Mann, der Eismann, entschieden. »Ich will nicht nach Spanien. Tut mir leid, aber für mich ist es dort zu heiß und staubig. Und das Essen ist zu scharf. Außerdem habe ich unseren Flug zum Südpol schon gebucht und einen Pelzmantel und Fellstiefel für dich gekauft. Das wäre doch Verschwendung. Wir können jetzt nicht mehr zurück.«
Ehrlich gesagt, hatte ich Angst. Ich ahnte, dass etwas Unwiderrufliches geschehen würde, wenn wir zum Südpol führen. Immer wieder hatte ich den gleichen schrecklichen Traum: Ich gehe spazieren und falle in ein tiefes Loch. Ich werde nicht gefunden und gefriere zu Eis. Von Eis umschlossen, starre ich in den Himmel. Ich bin bei Bewusstsein, kann jedoch keinen Finger rühren. Es ist ein grauenhaftes Gefühl. Ich merke, wie ich zunehmend zu Vergangenheit werde. Ich habe keine Zukunft. Nur immer mehr Vergangenheit lagert sich ab. Und alle sehen mich. Sie sehen Vergangenheit, sehen zu, wie ich rückwärts entschwinde.
Dann wachte ich auf. Neben mir schlief – lautlos, wie etwas Totes, Gefrorenes – der Eismann. Aber ich liebte den Eismann. Ich weinte. Meine Tränen fielen auf seine Wangen. Er wachte auf und nahm mich in die Arme. »Ich habe schlecht geträumt«, sagte ich. In der Dunkelheit schüttelte er langsam den Kopf. »Es war nur ein Traum«, sagte er. »Träume kommen aus der Vergangenheit, nicht aus der Zukunft. Du darfst dich nicht von ihnen beherrschen lassen, du musst sie beherrschen. Verstehst du?«
»Ja«, sagte ich. Aber ich war nicht überzeugt.
Schließlich stiegen mein Mann und ich ins Flugzeug zum Südpol. Ich hatte keinen Grund gefunden, die Reise abzusagen. Die Piloten und Stewardessen im Flugzeug zum Südpol waren äußerst wortkarg. Ich hätte gern aus dem Fenster geschaut, aber wegen der dicken Wolken war nichts zu sehen. Außerdem war das Fenster bald völlig von einer Eisschicht überzogen. Mein Mann schwieg die ganze Zeit und las in einem Buch. Alle Freude und alles Interesse an der Reise waren mir vergangen. Geblieben war nur das Gefühl, etwas einmal Beschlossenes pflichtgemäß zu erledigen.
Als wir die Gangway hinuntergingen und erstmals Fuß auf den Südpol setzten, durchlief ein heftiges Zittern den Körper meines Mannes. Es dauerte nicht länger als ein Wimpernschlag, sodass außer mir niemand etwas davon bemerkte. Obwohl sich seine Miene dabei nicht im Geringsten verändert hatte, war es mir nicht entgangen. In ihm war etwas kaum merklich ins Wanken geraten. Ich musterte ihn von der Seite. Er war stehen geblieben und schaute zuerst in den Himmel, dann auf seine Hände. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er sah mich an und lächelte. »Hierher wolltest du also?«, fragte er. »Ja«, sagte ich.
Ich hatte schon so etwas geahnt, aber nun war der Südpol noch viel einsamer, als ich es mir vorgestellt hatte. Kaum jemand lebte dort. Es gab nur einen gesichtslosen winzigen Ort mit einem ebenso gesichtslosen kleinen Hotel. Der Südpol ist kein Touristenziel. Nicht einmal Pinguine waren da. Vom Polarlicht war auch
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