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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erwiderte ich. Meine Freundinnen wollten unbedingt, dass ich mitkomme. Eigentlich kann ich es gar nicht.
    Ich hätte zu gern gewusst, was ein Eismann nun eigentlich war. War sein Körper wirklich aus Eis? Wovon ernährte er sich? Wo wohnte er im Sommer? Hatte er eine Familie? Solche Dinge eben. Leider erzählte der Eismann überhaupt nichts. Offenbar redete er nicht gern von sich.
    Stattdessen sprachen wir nur von mir. Dabei stellte sich etwas Unglaubliches heraus: Der Eismann wusste so gut wie alles über mich. Wer zu meiner Familie gehörte, mein Alter, meine Hobbys, meinen Gesundheitszustand, auf welcher Schule ich gewesen war, wer meine Freundinnen waren, einfach alles. Selbst über Ereignisse, die so weit zurücklagen, dass ich sie selbst vergessen hatte, wusste er Bescheid.
    »Ich begreife das nicht«, sagte ich, rot vor Verlegenheit. Ich hatte das Gefühl, nackt vor allen Leuten zu stehen.
    »Woher wissen Sie das alles über mich?«, fragte ich. »Können Sie Gedanken lesen?«
    »Nein, das nicht. Ich weiß diese Dinge einfach«, sagte der Eismann. »Ich kann so klar durch Sie hindurchsehen wie durch Eis.«
    »Können Sie auch meine Zukunft sehen?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte der Mann ausdruckslos und schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Zukunft interessiert mich nicht. Ehrlich gesagt, besitze ich keine Vorstellung von Zukunft. Wahrscheinlich weil Eis keine Zukunft hat. Nur Vergangenheit ist darin eingeschlossen. Eis kann alles so frisch erhalten, als wäre es lebendig. Eis bewahrt viele Dinge auf diese Weise auf. Rein und klar. Unversehrt. Das ist seine Aufgabe, sein Wesen.«
    »Da bin ich ja froh«, sagte ich und lächelte erleichtert. Denn über meine Zukunft wollte ich lieber nichts erfahren.

    Wieder in Tokyo, verabredeten wir uns bald jedes Wochenende. Aber wir sahen uns weder Filme an, noch setzten wir uns in ein Café. Wir gingen nicht einmal ins Restaurant, denn der Eismann aß so gut wie nichts. Meist saßen wir auf einer Parkbank und unterhielten uns. Wir hatten uns unendlich viel zu sagen. Dennoch sprach der Eismann kein einziges Mal von sich.
    »Warum erzählst du mir nie etwas von dir?«, fragte ich. »Ich möchte so vieles wissen. Wo du geboren bist, wer deine Eltern sind, wie du ein Eismann wurdest.«
    Der Eismann sah mich eine Weile an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er ruhig und fest und blies seinen harten weißen Atem in die Luft. »Ich habe keine Vergangenheit. Ich kenne zwar viele Vergangenheiten und bewahre sie, aber eine eigene habe ich nicht. Ich weiß nicht, wo ich geboren bin. Ich kenne meine Eltern nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich welche hatte oder wie alt ich bin. Oder ob ich überhaupt ein Alter habe.«
    Der Mann war so einsam wie ein Eisberg in der Dunkelheit.
    Ich begann ihn zu lieben. Und der Eismann liebte mich, mein gegenwärtiges Ich, ohne Vergangenheit und Zukunft. Auch ich liebte ihn, ohne an die Vergangenheit oder die Zukunft zu denken. Und wir fanden es wundervoll. Schließlich sprachen wir sogar von Heirat. Ich war erst zwanzig, und der Eismann war der erste Mann, in den ich mich ernsthaft verliebt hatte. Was es bedeutete, einen Eismann zu lieben, konnte ich mir damals nicht vorstellen. Aber ich wäre sicher ebenso ahnungslos gewesen, wenn er kein Eismann gewesen wäre.
    Meine Mutter und meine ältere Schwester waren entschieden gegen unsere Heirat. »Du bist noch viel zu jung zum Heiraten«, sagten sie. »Außerdem wissen wir nichts über die Herkunft des Mannes. Nicht einmal, wo er geboren ist. Wie sollen wir das der Familie erklären? Und was, wenn er plötzlich schmilzt? Dir ist das vielleicht nicht klar, aber in einer Ehe geht es in erster Linie um Verantwortung. Wie kann ein Eismann ein verantwortungsbewusster Ehemann sein?«
    Doch zumindest eine Sorge war unbegründet. Der Eismann war nicht wirklich aus Eis. Er war bloß so kalt wie Eis. Also schmolz er auch nicht, wenn es heiß wurde. Sein Körper bestand nicht aus Eis, er war nur sehr kalt, aber es war keine Kälte, die anderen Menschen die Wärme raubte.
    Also heirateten wir. Es war eine Hochzeit ohne Zeremonie. Niemand – weder meine Freunde noch meine Eltern und Geschwister – freute sich darüber. Es gab nicht einmal eine Hochzeitsfeier. Der Eismann hatte kein Stammbuch, also fiel auch das Standesamt aus. Wir beide beschlossen einfach, dass wir nun verheiratet seien. Wir kauften einen kleinen Kuchen und aßen ihn. Nur wir beide. Es war eine sehr stille

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