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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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beeinträchtigt hätte.
    Am vierten Tag – dem letzten ihres Urlaubs – aßen sie abends natürlich noch einmal Krebse. Während sie die Beine knackten und das Fleisch herauspulten, fanden beide, dass ihnen durch die Zeit hier – tagsüber schwimmen und abends Krebse essen – das hektische Leben in Tokyo unwirklich und fern vorkam. Sie sprachen fast nur von der Gegenwart. Hin und wieder verfielen sie in Schweigen, und beide hingen ihren Gedanken nach. Es war jedoch keine unbehagliche Stille, denn sie war ausgefüllt von kaltem Bier und heißen Krebsen.
    Sie verließen das Restaurant und gingen zu Fuß zum Hotel zurück. Wie immer beschlossen sie den Tag mit ruhigem und befriedigendem Sex. Anschließend duschten sie und schliefen ein.
    Doch nach kurzer Zeit wachte der junge Mann wieder auf. Mit einem Gefühl im Magen, als hätte er eine kleine dichte Wolke verschluckt. Er rannte ins Bad, beugte sich über die Toilette und übergab sich. Sein Magen war voll mit weißem Krebsfleisch gewesen. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, das Licht anzuknipsen, aber im Licht des Mondes, der über dem Meer stand, konnte er erkennen, was in der Toilette war. Er holte tief Luft, schloss die Augen und ließ etwas Zeit verstreichen. Sein Kopf war leer, und er konnte keinen Gedanken fassen. Nur warten. Eine weitere Welle von Übelkeit überkam ihn, und er erbrach den restlichen Mageninhalt.
    Als er die Augen öffnete, sah er eine weiße Masse von Erbrochenem in der Toilette schwimmen. »Eine ganz schöne Menge Krebse muss ich da vertilgt haben«, dachte er fast beeindruckt. »Kein Wunder, dass einem schlecht wird, wenn man jeden Tag so viel von dem Zeug vertilgt.« Jedenfalls war es zu viel gewesen, mehr Krebsfleisch, als er sonst in zwei, drei Jahren aß. Und alles in vier Tagen.
    Bei genauerem Hinsehen kam es ihm so vor, als würde der Klumpen sich bewegen. Anfangs hielt er es für eine Täuschung, hervorgerufen durch das schwache Mondlicht. Außerdem zogen immer wieder Wolken vor den Mond, und dann wurde die Dunkelheit noch schummriger. Der junge Mann schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete sie wieder. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Fleischklumpen bewegte sich tatsächlich. Seine Oberfläche kräuselte sich, als bildeten sich Falten auf ihr. Der junge Mann stand auf und schaltete das Licht im Bad ein. Er beugte sich tiefer über den Fleischklumpen und sah, dass sich auf seiner Oberfläche zahllose Würmer wanden. Zahllose winzige Würmer von der Farbe des Krebsfleisches.
    Wieder musste er sich heftig übergeben, aber sein Magen war schon leer und verkrampfte sich zu einem faustgroßen Stein, und der junge Mann würgte aus der Tiefe seiner Eingeweide bittere grüne Galle herauf. Damit nicht zufrieden, nahm er einen Schluck Mundwasser und erbrach es wieder. Immer wieder betätigte er die Spülung, um ganz sicher zu sein, dass der Inhalt der Toilette auch wirklich fort war. Dann wusch er sich über dem Waschbecken das Gesicht, rubbelte sich mit einem frischen weißen Handtuch so fest er konnte den Mund ab und putzte sich anschließend gründlich die Zähne. Als er sich, auf das Waschbecken gestützt, im Spiegel betrachtete, starrte ihm das abgezehrte, faltige, lehmfarbene Gesicht eines erschöpften alten Mannes entgegen. Er erkannte sich kaum wieder.
    Er verließ das Badezimmer und sah sich, an die Tür gelehnt, im Zimmer um. Seine Freundin lag schlafend im Bett. Sie schien nichts mitbekommen zu haben. Das Gesicht ins Kissen gedrückt, atmete sie tief und regelmäßig. Wie ein zarter Fächer breitete sich ihr langes schwarzes Haar über ihre Wange und ihre Schultern. Gleich unterhalb der Schulterblätter hatte sie zwei kleine Muttermale, wie Zwillinge, und dort, wo ihr Badeanzug gewesen war, zeichneten sich helle Streifen ab. Durch die Jalousien drang das bleiche Mondlicht und das eintönige Rauschen der nächtlichen Wellen. Die grüne Digitalanzeige des Weckers neben dem Bett leuchtete. Nichts hatte sich verändert. Nur wusste er jetzt, dass die Krebswürmer auch in ihr waren. Sie hatten ja das Gleiche gegessen. Sie hatte nur noch nichts davon bemerkt.
    Der junge Mann ließ sich auf einen Rattansessel am Fenster fallen, schloss die Augen und atmete langsam und regelmäßig. Er sog frische Luft in seine Lungen und stieß die alte, verbrauchte aus. Er versuchte so tief wie möglich zu atmen; alle Poren seines Körpers sollten sich weit öffnen. Sein Herz schlug hart und trocken wie ein alter Wecker, der in einem

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