Blinde Weide, Schlafende Frau
leeren Zimmer tickt.
Während sein Blick auf seiner schlafenden Freundin ruhte, stellte er sich die unzähligen Würmer in ihrem Bauch vor. Sollte er sie wecken und ihr davon erzählen? Musste er nicht etwas unternehmen? Eine Weile überlegte er hin und her und entschied sich schließlich dagegen. Es würde nichts nützen. Sie hatte nichts davon bemerkt. Das war das größte Problem.
Er spürte, wie die Welt aus den Angeln geriet, hörte, wie es quietschte. Es war etwas geschehen, und die Welt hatte sich verändert. Die Ordnung der Dinge hatte sich verkehrt, nichts würde mehr so sein wie zuvor. Von nun an würde sich alles in eine andere Richtung entwickeln. Morgen würde er zurück nach Tokyo fliegen, zurück in sein altes Leben.
»Äußerlich hat sich nichts geändert«, dachte der junge Mann. »Aber ich werde nie mehr mit dieser Frau zurechtkommen. Nie mehr die gleichen Gefühle für sie haben wie gestern.« Das wusste er. Und das war noch nicht alles. Wahrscheinlich würde er nicht einmal mehr mit sich selbst zurechtkommen. Es war, als wären sie auf die falsche Seite vom Zaun gefallen. Geräuschlos, schmerzlos. Und sie hatte es noch nicht einmal gemerkt .
Ruhig atmend saß der junge Mann bis zum Morgengrauen in dem Rattansessel. Von Zeit zu Zeit zog ein nächtlicher Schauer auf, und die Tropfen peitschten wie strafend ans Fenster. Dann wieder verzogen sich die Wolken, und der Mond kam hervor. Dies wiederholte sich viele Male. Doch die Frau wachte nicht auf. Sie drehte sich auch nicht herum, nur ab und zu zuckten ihre Schultern. Inbrünstig sehnte er den Schlaf herbei. Tief und fest wollte er schlafen, und wenn er aufwachte, sollte alles gelöst sein, reibungslos funktionieren wie immer. Der junge Mann hatte keinen größeren Wunsch, als in einen solchen tiefen Schlaf zu fallen. Doch sosehr er auch die Hand danach ausstreckte, er blieb unerreichbar.
Er dachte an den ersten Abend, als sie das kleine Restaurant entdeckt hatten. An die beiden alten Chinesen mit den kurzen Haaren, die schweigend ihr Essen verzehrten, an den schwarzen Hund mit den halb geschlossenen Augen zu ihren Füßen und die verblichenen alten Schirme über den Tischen. Und daran, wie sie ihn am Arm gezogen hatte. Ihm war, als läge all dies weit zurück und nicht erst drei Tage. Drei Tage, in denen ihn eine seltsame Macht in einen unheimlichen alten Mann mit lehmfarbener Haut verwandelt hatte. In Singapur, der ruhigen schönen Stadt am Meer.
Er betrachtete aufmerksam seine Hände. Erst die Handrücken, dann drehte er sie und nahm die Handflächen in Augenschein. Es war nicht zu leugnen, dass sie leicht zitterten.
»Mmh, ich habe schon immer gern Krebse gegessen. Und du?«, hörte er die Frau sagen.
Ich weiß nicht, dachte er.
Sein Herz fühlte sich an wie von etwas Formlosem umschlossen, umgeben von einem tiefen, weichen Geheimnis. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, welchen Weg er von nun an einschlagen würde und was ihn erwartete. Doch als es im Osten endlich hell wurde, kam ihm plötzlich ein Gedanke.
Eins ist sicher, dachte der junge Mann: Wohin ich auch gehe, ich werde nie mehr Krebse essen.
Glühwürmchen
Vor langer, langer Zeit, auch wenn es höchstens fünfzehn Jahre her sein kann, lebte ich in einem privaten Studentenwohnheim in Tokyo. Ich war damals achtzehn und im ersten Semester. Da ich die Stadt nicht kannte und noch nie allein gelebt hatte, brachten mich meine Eltern vorsorglich in diesem Wohnheim unter. Natürlich hatten auch finanzielle Überlegungen mitgespielt; wäre es nach mir gegangen, hätte ich lieber eine eigene Wohnung gehabt, aber sie mussten ja schon die Einschreibe- und Studiengebühren sowie meinen monatlichen Unterhalt berappen, also konnte ich nicht meckern.
Das Wohnheim lag, von einer Betonmauer umgeben, auf einem großzügigen Areal im Bezirk Bunkyo und hatte einen herrlichen Blick über die Stadt. Gleich hinter dem Tor stand ein riesiger Keyaki-Baum, der ungefähr hundertfünfzig Jahre alt oder noch älter war. Sein grünes Blätterwerk war so dicht, dass es, wenn man darunter stand, den Himmel verdeckte.
Ein asphaltierter Weg wand sich um den großen Baum herum und führte dann in einer langen Geraden über den Hof, auf dem nebeneinander zwei große zweistöckige Betongebäude standen. Aus den geöffneten Fenstern tönten immer irgendwelche Discjockeystimmen aus dem Radio. Alle Vorhänge waren cremefarben, von der Farbe, die in der Sonne am wenigsten ausbleicht.
Das zweigeschossige
Weitere Kostenlose Bücher