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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Hochzeit. Wir mieteten eine kleine Wohnung, und der Eismann nahm eine Stelle in einem Kühlhaus an, in dem Rindfleisch gelagert wurde. Auch die strengste Kälte machte ihm nichts aus, und er arbeitete hart und unermüdlich. Er aß nicht einmal viel. Sein Chef war von ihm so angetan, dass er ihm ein höheres Gehalt zahlte als den anderen Angestellten. So führten wir ein ruhiges, glückliches Leben, niemand störte uns, und wir störten niemanden.
    Sooft wir miteinander schliefen, musste ich an einen Eisblock denken. Es musste ihn geben, irgendwo stand er, einsam und still. Der Eismann wusste wahrscheinlich, wo. Das Eis war hart, etwas Härteres konnte es nicht geben, und es war der größte Eisblock auf der Welt. Er lag weit, weit fort, und der Eismann transportierte Erinnerungen in dieses Eis. Als ich die ersten Male mit ihm schlief, verwirrte mich das. Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, und ich liebte es, in seinen Armen zu liegen. Noch immer erzählte er nichts von sich. Auch nicht, warum er ein Eismann geworden war. Ich fragte ihn auch nicht. Schweigend umarmten wir uns in der Dunkelheit und teilten den riesigen Eisblock, in dem Millionen von Jahren der Vergangenheit eingeschlossen waren.
    Unsere Eheleben war problemlos. Wir liebten uns sehr und blieben stets für uns. Die Leute in unserer Umgebung konnten sich zuerst nicht recht an ihn gewöhnen, aber mit der Zeit sprach ihn doch der ein oder andere an und schien zu begreifen, dass ein Eismann sich nicht so sehr von normalen Menschen unterscheidet. Ganz akzeptiert wurde er natürlich nie, und damit auch ich nicht, weil ich ihn geheiratet hatte. Die sind anders, fanden die Leute, und diese Kluft würde sich auch niemals schließen.
    Wir konnten kein Kind bekommen. Vielleicht war das zwischen einer Frau und einem Eismann genetisch zu kompliziert. Ohne ein Kind hatte ich sehr viel Zeit für mich. Nach der Hausarbeit am Vormittag hatte ich nichts mehr zu tun. Freundinnen oder Bekannte in der Nachbarschaft, mit denen ich reden oder etwas unternehmen konnte, hatte ich nicht. Meine Mutter und meine Schwester waren wegen meiner Hochzeit mit dem Eismann noch immer verstimmt und sprachen nicht mit mir. Ich hatte der Familie Schande gemacht. Nicht einmal zum Telefonieren hatte ich jemanden. Solange der Eismann im Kühlhaus arbeitete, war ich zu Hause allein, las und hörte Musik. Aus irgendeinem Grund gefiel mir das besser, als auszugehen. Allein zu sein machte mir eigentlich nichts aus. Ich glaube, es entsprach meinem Charakter. Allerdings war ich noch jung, und die Einförmigkeit meines Alltags ödete mich bald an. Es war jedoch nicht Langeweile, die mich plagte. Unerträglich fand ich nur die Eintönigkeit. Durch die ständige Wiederholung der gleichen Abläufe kam ich mir allmählich wie ihr Schatten vor. Also schlug ich meinem Mann eines Tages vor, zur Abwechslung eine Reise zu unternehmen. Er sah mich nachdenklich an. »Warum willst du verreisen? Bist du hier mit mir nicht glücklich?«, fragte er.
    »Doch, natürlich«, sagte ich. »Das hat nichts mit uns zu tun. Ich langweile mich nur ein bisschen. Ich würde gern einmal weit fort fahren und etwas sehen, das ich noch nie gesehen habe. Luft atmen, die ich noch nie geatmet habe. Kannst du das verstehen? Wir haben doch keine Hochzeitsreise gemacht. Geld haben wir auch genug gespart, und Urlaub hast du auch noch eine Menge. Wir könnten in aller Ruhe verreisen.«
    Der Eismann stieß einen langen frostigen Seufzer aus, der sich in der Luft in klirrende Eiskristalle verwandelte. Er verschränkte die langen bereiften Finger im Schoß. »Also gut«, sagte er. »Wenn du so gerne verreisen möchtest, habe ich nichts dagegen. Ich finde Reisen nicht so besonders toll, aber um dich glücklich zu machen, würde ich alles tun und überall hinfahren. Im Kühlhaus geben sie mir bestimmt Urlaub, denn ich habe die ganze Zeit schwer gearbeitet. Wohin möchtest du denn?«
    »Was hältst du vom Südpol?«, fragte ich. Den Südpol hatte ich gewählt, weil es dort kalt war und der Eismann sich bestimmt dafür interessierte. Und ehrlich gesagt, wollte ich selbst schon immer einmal dorthin. Um das Polarlicht und die Pinguine zu sehen. Ich sah schon vor mir, wie ich, in einen Pelzmantel mit Kapuze gehüllt, unter dem Polarlicht mit einer Schar Pinguine spielte.
    Als ich das sagte, sah mir der Eismann, ohne zu blinzeln, tief in die Augen. Sein scharfer Blick drang durch meine Augäpfel in den hintersten Winkel meines Gehirns. Einen

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